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Epistemologie des Anschlusses und Psychiatrie

25 Ott 12

Di galzigna

Questo saggio è contenuto in: R. Benedikter (Hrsg.), Kultur, Bildung oder Geist?, Studium Verlag, Innsbruk und Wien 2003. L‘opera è stata presentata all‘Università di Innsbruk il 7 novembre 2003

 

1. Der Name und der Forschungsbereich

Schon Platon unterschied die doxa (Glaube, Meinung) von der episteme, d.h. von der wahrhaften Erkenntnis und von der Wissenschaft. Nach dem laufenden philosophischen Wortschatz bedeutet heute Epistemologie, im weitesten Sinne, philosophische Untersuchung der Natur, der Mannigfaltigkeit, des Ursprungs, der Gegenstände und der Grenzen der Erkenntnis.

Der Bedeutungsbereich des Begriffs erfährt aber im Laufe der Zeit einige bestimmte Veränderungen und Abweichungen.

In der englischen Sprache erscheint das Wort epistemology erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deutet eben auf eine besondere philosophische Disziplin hin, die die Erkenntnis zum Gegenstand ihrer (theoretischen) Bearbeitungen und Untersuchungen wählt.

Mit dem Anbruch und der Verbreitung des Positivismus wird also die Epistemologie – d.h. ein bestimmter Bereich der philosophischen Untersuchung – als Schauplatz für die diachronische wie für die synchronische Betrachtung der Bedeutungen, der Grundlagen, des Wahrheitswertes, der Methoden und der Logik der Erkenntnis erkannt. Innerhalb der Epistemologie wird eine besondere Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis und den Naturwissenschaften geschenkt, die schon Comte an die Spitze des positiven Wissens gestellt hatte.

Ein neues Wort und ein selbständiger Forschungsbereich erscheinen also, wenn sich die Wissenschaft – durch Bücher, Zeitschriften und Einrichtungen, die sie fördern – als öffentliche Tätigkeit entwickelt, die genau von den professionellen Bereichen der Philosophie unterschieden wird. In diesem historischen Umstand wird der Wissenschaftler zum Fachmann. Er bringt seine Arbeit innerhalb der verschiedenen Disziplinen unter, die institutionell beglaubigt und von der gesamten wissenschaftlichen Welt gerechtfertigt werden: wenn er vorher als Naturphilosoph anerkannt wurde, wird er jetzt genauer als ein Astronom, ein Mathematiker, ein Physiker, ein Chemiker, ein Biologe, usw. bezeichnet.

In der angelsächsischen Welt und in der Tradition der analytischen Philosophie ist die Epistemologie sozusagen ihrer positivistischen Herkunft treu geblieben: Sie hat im Allgemeinen eine grundlegende Berufung und einen normativen und preskriptiven Charakter entwickelt, indem sie ihre Muster der wissenschaftlichen Rationalität bevorzugt in Anlehnung an die Mathematik und die Physik gebildet hat.

Der reduktionistische Szientismus – der unter seinen grundsätzlichen Postulaten die Einförmigkeit der Natur und die Einheitlichkeit der Wissenschaft voraussetzt – hat seine Wurzeln gerade in dieser Bevorzugung, die schon in der positiven Philosophie Auguste Comtes vorhanden war (auch wenn Comte einer jeden Form von Szientismus und der Gestalt des Wissenschaftlers als "Fachmann" widrig war).

In der analytischen Tradition haben die Epistemologie und die Wissenschaftsgeschichte besonders die so genannten "strengen" Wissenschaften hervorgehoben: Wissenschaften, die sich sowohl auf Grund ihrer jahrhundertelangen Überlieferung, ihres Niveaus an Formalisierung und Mathematisierung, als auch, wie gesagt, auf Grund ihres Vorrangs innerhalb der Hierarchie der Wissenschaften, der vom Positivismus hervorgebracht wurde.

Im Bereich der so genannten kontinentalen Epistemologie – besonders nach den Arbeiten von Gaston Bachelard und den Untersuchungen von Georges Canguilhem – wurden der positivistische Kanon der Wissenschaften und seine philosophischen Voraussetzungen endgültig aufgegeben. Zwei Schritte haben sich, in diese Richtung hin, als entscheidend erwiesen: die Einstellung von Seiten Bachelards der coupures épistémologiques und die damit verbundene Aufwertung derDiskontinuität, an der Canguilhem gearbeitet hat: Diskontinuität in Bezug auf die allgemeine Meinung, die Überzeugungen, die Vorurteile, die magischen Vorstellungen, die vorherrschenden wissenschaftlichen Überlieferungen, aber auch in Bezug auf den Vorgang, die Art und Weise, die Grundsätze und die logischen Kriterien, die die Wahrheitsbildung regeln; Diskontinuitäten, die die lineare und „progressive" Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens senkrecht unterbrechen, und die auch den inneren Zusammenhang eines einzelnen theoretischen Systems waagrecht brechen können. Zwei entscheidende Schritte, die, wie gesagt, eine radikale Umwertung der Methode und des Wirkungsfeldes der Epistemologie bewirken. Diese ist, wie Foucault in einem an Canguilhem gewidmeten Aufsatz geschrieben hat, nicht mehr „die allgemeine Theorie jeder Wissenschaft und jeder möglichen wissenschaftlichen Aussage; sie ist die Suche nach der inneren Normativität der verschiedenen wissenschaftlichen Tätigkeiten, so wie sie effektiv in die Tat umgesetzt worden sind".

Die Vielfalt der „regionalen Rationalismen" (Bachelard) zu erkennen, bedeutet, in der Tatsache, auf die preskriptive und grundlegende Berufung der epistemologischen Arbeit zu verzichten, und zwar durch die – diachronische und synchronische – Analyse der normativen Anlage jeder einzelnen diskursiven Praxis und der Schwelle, die sie überschreiten kann, wenn sie sich als gefestigte und geteilte wissenschaftliche Wahrheit bildet. Um eine wirkungsvolle Einteilung, die bei Michel Foucault beliebt war, zu übernehmen, können wir mindestens an vier Schwellen erinnern, die ein bestimmtes diskursives Gebilde kennzeichnen, wenn es sich als wissenschaftliche Theorie mit einer eigenen inneren Gesetzlichkeit gestaltet: eine Schwelle der Positivität, eine Schwelle der Epistemologisierung, eine Schwelle der Wissenschaftlichkeit, eine Schwelle der Formalisierung.

Die Mathematik ist, wie Foucault behauptet, die einzige diskursive Praxis, die die vier genannten Schwellen „in einem Sprung überschritten" hat. Dennoch, wenn man aber „die Errichtung des mathematischen Diskurses als Prototyp für das Entstehen und Werden aller anderen Wissenschaften nimmt, dann läuft man Gefahr, alle besonderen Formen der Historizität zu homogenisieren, all die verschiedenen Schwellen, die eine diskursive Praxis überschreiten kann, auf die Instanz eines einzigen Schnittes zurückzuführen und endlos zu allen Zeitpunkten die Problematik des Ursprungs zu reproduzieren: so fänden sich die Rechte der historisch-transzendentalen Analyse fortgesetzt. Modell ist die Mathematik ganz sicher für die meisten wissenschaftlichen Diskurse in ihrem Bemühen um formale Strenge und Beweisfähigkeit gewesen; aber für den Historiker, der das wirkliche Werden der Wissenschaften hinterfragt, ist sie ein schlechtes Beispiel – ein Beispiel, das man auf keinen Fall wird verallgemeinern können".

In dieser relativistischen und antipreskriptiven Perspektive ermöglicht uns die Analyse einer episteme, in ihrem Inneren die besonderen und verschiedenen Arten der Wahrheitsproduktion zu erkennen: diejenigen die Foucault als „Wahrheitsregimes" bezeichnete und zu deren Bildung auch einflussreiche, nicht diskursive (psychologische, ökonomische, soziale, institutionelle, metaphysische, religiöse, usw.) Faktoren beitragen.

Ein relativistischer Ansatz, eine Neigung, die entscheidende Rolle der historischen Untersuchung zu unterstreichen und letztendlich, last but not least, eine weniger begrenzte und also zu einer Aufwertung der extra-logischen und extra-diskursiven Faktoren bereite Auffassung der wissenschaftlichen Rationalität: diese neuen – auch in den post-positivistischen und post-empiristischen Epistemologien gut sichtbaren – Richtungen können eine wahrhafte Freizone darstellen, die die Grenzlinie, die bisher das analytische und das kontinentale Denken auf verschiedenen und unterschiedlich radikalen Weisen getrennt hat, immer fließender machen könnte.

Unsere Bemühung – gefördert, wie wir sehen werden, durch die Netzpraktiken – bewegt sich gerade innerhalb dieses Horizonts: eine Bemühung, die die Bildung einer analytischen und historischen Epistemologie anstrebt, die als innerer Bestandteil der wissenschaftlichen Theorie und Praxis, als Fähigkeit, diese zu verbinden und auch als kritisches Bewusstsein ihrer inneren Zugehörigkeit zu einem weiteren Beziehungskontext wirken soll.

Innerhalb dieses Standpunktes wird – natürlich nicht hier – eine tiefgründige theoretische Gegenüberstellung einiger Grundbegriffe der zeitgenössischen Epistemologie notwendig sein. Grundbegriffe, die sich außerhalb der positivistischen Hierarchie der Wissenschaften – und also außerhalb der zwei grundsätzlichen Postulate, die sie unterspannen (die Einförmigkeit der Natur und die Einheitlichkeit der Wissenschaft) bewegen: der regionale Rationalismus (Bachelard), dieepisteme (Foucault), das paradigma (Kuhn), das Forschungsprogramm (Lakatos), die Forschungstradition (Laudan), der Pluralismus (Feyerabend), dasBegriffsschema (Quine), usw.

Eine rationale, verschiedentlich argumentierte Rekonstruktion der begrenzten und partiellen Ordnungen eines jeden Diskurses, der Anspruch auf wissenschaftlicheWahrheit hat, ist der gemeinsame Nenner dieser verschiedenen Philosophien der Wissenschaft. Schon vorher war nicht zufälligerweise von einem relativistischen Ansatz die Rede. Eine kurze nähere Bestimmung, die diesem Ausdruck wieder Stärke und theoretische Würde verleihen könnte, ist notwendig. Ein Ausdruck, der allzu oft verdreht und missverstanden worden ist. Ein Relativist sein bedeutet, die Vielfalt der Wahrheitsordnungen innerhalb der wissenschaftlichen Untersuchung – synchronisch und diachronisch – zu erkennen. Dies führt weder zu einem nihilistischen steuerlosen Treiben, das die verschiedenen ausführbaren Alternativen auf die gleiche Ebene stellt, noch zu einer radikalen skeptischen Lösung, die jede einzelne Alternative so behandelt, als wäre sie eine der vielen und möglichenÜberzeugungen, ausschließlich durch ihre Überzeugungskraft, ihr Durchsetzungsvermögen innerhalb der wissenschaftlichen Welt und eines bestimmten sozialen und institutionellen Kontextes überhaupt gekennzeichnet.

Der relativistische Epistemologe, der immer aufmerksam auf die innere Gestaltung und auf den historischen Charakter der Theorien ist, erkennt und analysiert die besondere Art und Weise, wie die Wahrheit, innerhalb jeder einzelnen episteme, geschaffen, wiedergegeben, kontrolliert und garantiert wird. Er äußert sich nie – normativ – über den größeren oder minderen Wahrheitswert jeder einzelnen episteme: er beschränkt sich darauf, sie von innen aus zu verstehen und zu erklären. Er entdeckt sowohl ihre Beziehungen (Ausschließung, Antagonismus, Nähe, Fremdheit) mit anderen diskursiven Gebilden, als auch die (nicht unbedingt diskursiven) Zusammenhänge, die sie verständlicher machen. Jede hierarchische und preskriptive Bewertung – die bestimmen kann, welche die gültigste, „wissenschaftlichste", am leichtesten zu bestätigende und am schwierigsten zu falsifizierende Erkenntnismethode sein muss – wird also aufgegeben, und zwar zugunsten einer punktuellen und lokalisierten Analyse der Geschichte, der Struktur und der modi der Produktions der wissenschaftlichen Wahrheit.

Die These der Inkommensurabilität der Paradigmen – die sich schon mit Kuhn und Quine (um nur diese zu nennen) durchgesetzt hat und die heute im epistemologischen Bereich weitaus akzeptiert ist – wird zum grundsätzlichen Unterbau jedes relativistischen Ansatzes. In der These der Inkommensurabilität fällt die traditionelle Unterscheidung zwischen der Beobachtung – schon aufgefasst als neutral in Bezug auf die Theorie – und der Theorie selbst, die sich der Beobachtung und der empirischen Bestätigung anvertraut, um bestätigt (Carnap) oder falsifiziert (Popper) zu werden. Innerhalb dieser Perspektive glaubt man, dass empirische Tatsachen und Beobachtungsdaten immer von Theorie durchdrungen sind. Man glaubt, dass sie nie grobe, unmittelbare, naive Bestandteile sind. Die Beobachtung wäre also, vor allem in der Physik (Duhem), immer theorie-laden, d.h. mit Theorie beladen.

Ist es heute möglich, die These der Inkommensurabilität – und der Unbestimmtheit der Übersetzung (Quine) – anzunehmen, ohne deshalb jeder rationalen und historischen Rekonstruktion der theoretischen Entscheidungen die Legitimation zu entziehen? Ohne deshalb einem blinden Subjektivismus zu verfallen, der unfähig ist, die besonderen, jedem Paradigma eigenen Weisen, durch die ein Wahrheitsregime entsteht und sich behauptet, genau zu bestimmen? Ohne deshalb fortschrittsfeindlichen Anschauungen Raum zu schaffen?

Unsere Antwort kann ausgesprochen positiv sein, aber nur unter der Bedingung, dass sie eine umfassendere Auffassung der Rationalität mit sich bringt; eine Auffassung, die bereit ist, auch (nicht streng wissenschaftliche sondern) politische, institutionelle, ideologische und psychologische Variablen als epistemologisch bedeutend zu betrachten. Selbst Larry Laudan, der gegen jede skeptische und reaktionäre Verwicklungen der These der Inkommensurabilität war, bewegt sich innerhalb dieser neuen und umfangreicheren Auffassung der ratio.

„Für Laudan – erläutert richtigerweise Franca D’Agostini – sind der Traditionskonflikt, die empirischen und begrifflichen Probleme und die Ansprüche auf eine stufenweise Entwicklung nicht nur Voraussetzungen für das Werden der „Wissenschaft" im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie betreffen jede Art von Wissen und kultureller Praxis, wie die Politik oder die Theologie; und es ist gerade der Dialog mit den „außerwissenschaftlichen" Bereichen, wie der Religion, der den Weg der Wissenschaft in einigen ihrer Entwicklungsstufen bestimmt. In Laudans Hypothese wirke also eine umfangreichere Auffassung der Rationalität als die der pragmatistischen und hermeneutischen Hypothesen Lakatos’ und Kuhns".

Es ist aber nicht alles. Die Vielschichtigkeit der ratio zu begreifen, heißt auch das Wirkungsfeld der Epistemologie radikal neu zu bestimmen, indem man die politischen Wertigkeiten wirksam und vorsätzlich einflussreich macht. Es geht also darum, mit Rorty, den Vorrang der Demokratie über die Philosophie wieder herzustellen: und infolgedessen – wie kürzlich Giulio Giorello, nach und über Popper hinaus, mit Feyerabend gemacht hat – den Vorrang der „freien Gesellschaft" auch über die Wissenschaft.

Die wichtigste Aufgabe des Epistemologen bleibt die rationale Rekonstruktion der Umrisse eines Paradigmas – seine eigene Selbständigkeit und seine mögliche Entgegenstellung/Gegenüberstellung mit anderen Paradigmen. Dieser wird aber sowohl den Machtverhältnissen, die das Leben der Paradigmen kennzeichnen, als auch ihren Interaktionsmöglichkeiten immer mehr Aufmerksamkeit schenken. Er wird also bereit sein, die Kraft und die Wirksamkeit eines Paradigmas zu bewerten, auch ausgehend von der Überprüfung seiner Fähigkeit, die Entgegenstellung zu akzeptieren, oder der Auseinandersetzung freien Raum zu lassen, mit der ständigen Bedrohung, seine Thesen verfälscht zu sehen. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Epistemologe – Vorkämpfer, wie Giulio Giorello vorschlägt, einer ausgeglichenen Mischung von Toleranz und Fallibilismus – aktiv kämpfen, um, über die Barriere der Incommensurabilität hinaus, den Schauplatz der Entgegenstellungen und Gegenüberstellungen zu erkennen und zu verstehen, aber auch, letzten Endes, um diesem Schauplatz den größtmöglichen Umfang zu versichern.

„Mit anderen Worten, wenn wir noch von (wissenschaftlichen) Fortschritt reden wollen, müssen wir erkennen, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, den Fortschritt „aufzubauen" – was nicht unbedingt ein Übel ist, wenigstens für uns, die wir nach 1984 leben". Und so „entfaltet sich der Einfallsreichtum, der in der Übersetzungsarbeit verlangt wird, in der ‘Spannung der Begriffe’, die in der Tatsache die Kommunikation zwischen Forschern, die an verschiedenen und/oder gegenständigen Forschungsprogrammen arbeiten, ermöglichen. Es ist überhaupt nicht notwendig, „Bedeutungsgleichungen" zwischen jedem einzelnen Wort der Vertreter des ersten Programms und jedem Wort, das in den Formulierungen des gegenständigen Programms vorkommt, herzustellen […]. Wie wir gesehen haben, verlangt man nicht eine so enge Verbindung im Falle des Übergangs von der Newton’schen zu der relativistischen Mechanik und nicht einmal innerhalb desselben Übergangs, im Programm Einsteins, von der speziellen zur allgemeinen Theorie. Dennoch, wie Feyerabend ausdrücklich erkennt (1987), verhindert dies nicht die Gegenüberstellung der verschiedenen Begriffsschemata; im Gegenteil, dadurch dass die Vertreter beider Schemata die gleichen Wörter verwenden, wird die Umdeutung von ganzen ‘Sätzen’ die Kommunikation ermöglichen. Dies ergibt selbstverständlich, dass die Betreffenden eine Art „positiven Teufelskreises" zwischen Übersetzung-Verständnis und Toleranz erkennen, während Orthodoxie und Reinheit der Lehre Genossinnen der Stagnation sind".

 

2. Das Ansehen der Induktion und das Vorbild der Erfahrung

Die induktive Folgerung bleibt, trotz der bekannten Widerlegungen Poppers, ein Verfahren, das in verschiedenen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung eingehend angewandt wird: besonders in den life sciences und in den so genannten Humanwissenschaften, aber auch – es muss erwähnt werden – in den „strengen" Wissenschaften, wie Mathematik und Physik. In dieser Hinsicht, werden einige Verweise auf „Klassikern" des Induktivismus nützlich sein: von Carl Hempel bis zu Rudolf Carnap.

Die Wahrheit eines induktiven Schlusses, behauptete Carnap, ist nie gewiss. Wir können – ausgehend von einer bestimmten Anzahl von empirisch begründeten Prämissen – höchstens behaupten, dass der Schluss einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad hat: Die induktive Logik lehrt uns, den Wert dieser Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Eine gewisse, weitaus wiederkehrende Regelmäßigkeit liegt den Konzeptualisierungsprozessen zu Grunde und macht oft die Verfassung eines Gesetzes stichhaltig: dieses wird sich aber, auch wenn es empirisch gut begründet ist, immer nur auf eine begrenzte Anzahl von Beobachtungen gründen. Es wird also – in einer mehr oder weniger nahen Zukunft – immer möglich sein, ein Gegenbeispiel zu finden. Und ein einziges Gegenbeispiel genügt, um einen Falsifikationsprozess desselben Gesetzes einzuleiten. Deshalb schreibt Carnap, dass es nicht richtig ist, von einer Verifikationeines Gesetzes (also der „endgültigen Bestimmung ihrer Wahrheit") zu reden, sondern nur von einer Bestätigung. Der „Bestätigungsgrad" eines Gesetzes ist für Carnap seine „logische Wahrscheinlichkeit", die er auch als induktive Wahrscheinlichkeit bezeichnet. Die Bestätigung ist bedeutsam, wenn wir eine große Anzahl an empirischen Fällen beobachten können, an positiven Beispielen, die dem betreffenden Gesetz zu Grunde liegen. Eine der goldenen methodologischen Regeln, die die Überprüfungen, die ein Gesetz bestätigen (oder falsifizieren) können, wirksam machen, ist diejenige, die Carnap methodologische Regel der Heterogenitätnennt. „Wenn wir die Regel der Wärmeausdehnung überprüfen wollen, müssen wir uns nicht auf die Kontrolle der festen Stoffe beschränken. Wenn wir das Gesetz überprüfen, nach dem alle Metalle gute Elektrizitätsleiter sind, dürfen wir unsere Kontrolle nicht auf Kupferproben beschränken, sondern wir müssen das Verhalten so viel wie möglicher Metalle unter verschiedenen Bedingungen, Temperaturen, usw., analysieren".

Im Übergang von der Physik zur Psychologie (oder Psychiatrie), wäre es angemessen, das Wort „Metalle" mit dem Wort „Individuen" (oder „Gruppen von Individuen") zu ersetzen, und den Ausdruck „unter verschiedenen Bedingungen, Temperaturen, usw." mit dem Ausdruck „soziale -, kulturelle –und Umweltbedingungen, usw.". Dieser mögliche Parallelismus würde selbstverständlich eine angemessene Argumentation verdienen.

Beschränken wir uns vorläufig auf die zwei Momente, die die wissenschaftliche Methode nach der induktivistischen Perspektive gründen: die Evidenz, die von den Beobachtungsdaten (oder Versuchsdaten) geliefert wird und die Hypothese (oder das Gesetz); es ist die Beziehung zwischen diesen zwei Momenten – zwischen diesen zwei Begriffen -, die den Bereich des Begriffes „logische oder induktive Wahrscheinlichkeit" bestimmt. Innerhalb eines logisch-induktiven Systems muss der Wahrscheinlichkeitsgrad – oder Bestätigungsgrad – einer Hypothese als Untersuchung der logischen Verhältnissen zwischen Hypothese und Evidenz verstanden werden.

Es ist also möglich, ein Gesetz oder eine Hypothese durch ein Gegenbeispiel zu falsifizieren, auch wenn es sich nie um eine endgültige Falsifikation handeln wird. Der Falsifikationsprozess einer wissenschaftlichen Theorie, die normalerweise durch mehrere Begriffe, Gesetze und Hypothesen bestimmt wird, ist bei weitem komplexer. Um die Entwertung einer Theorie zugunsten einer Gegentheorie festzusetzen, genügt ein experimentum crucis (ein entscheidender Versuch) nicht .

„Die experimenta crucis sind in der Wissenschaft unmöglich": sie können höchstens „zeigen, dass eine der zwei gegenständigen Theorien ernsthaft unangemessen ist", aber sie genügen nicht, um diese auf rigorose und endgültige Weise zu widerlegen.

Andererseits wird die Glaubwürdigkeit selbst einer bestimmten Hypothese, oder eines Gesetzes, nie endgültig absolut sein, und ihre Bestätigung oder ihre Falsifikation werden bestimmt nicht vom Ausgang eines einzelnen entscheidenden Versuchs abhängen.

Schon in der Logik der Forschung wertet hingegen Karl Popper, innerhalb seiner bekannten Theorie der deduktiven Methode der Kontrolle, die falsifizierende Rolle der entscheidenden Versuche auf.

Als kühner Gegner der induktiven Methode, sowohl in ihrer klassischen als auch in ihrer probabilistischen Fassung, stellt er fest, dass das Problem der Induktion folgendes ist: die Wahrheitsbestimmung allgemeiner Behauptungen, die auf die Erfahrung gründen. Für den Induktivisten wird die Wahrheit solcher allgemeinen Behauptungen auf die Wahrheit besonderer Behauptungen beschränkt; die Wahrheit dieser letzten ist ihrerseits aus Erfahrung bekannt, und dies bedeutet, dass die allgemeine Behauptung auf die induktive Folgerung gegründet ist.

Um also das Induktionsprinzip zu rechtfertigen, müssen wir zu induktiven Folgerungen greifen, und um letztere zu rechtfertigen, müssten wir ein Inuktionsprinzip höheren Grades annehmen, usw. Der Versuch, das Induktionsprinzip zu gründen, ist deshalb gescheitert: gerade weil es uns notwendigerweise zu einemunendlichen Regress führt.

Für Popper ist der grundlegende Irrtum dieses Ansatzes vom Verweis auf die Erfahrung bestimmt, und also von der inbegriffenen Verwechslung von einerPsychologie der Erkenntnis, die es mit empirischen Tatsachen zu tun hat, und einer Logik der Erkenntnis, die sich hingegen nur mit logischen Verhältnissen beschäftigt. Auch in seiner raffiniertesten probabilistischen Fassung ist die induktive Methode für Popper dem selben Irrtum verfallen: sie hat die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse mit der Wahrscheinlichkeit der Behauptungen verwechselt. Anders ausgedrückt: Der Wahrscheinlichkeitsgrad einer wissenschaftlichen Hypothese kann unmöglich durch die induktive Folgerung überprüft werden.

Um den Wert einer Hypothese zu beurteilen, muss man aber festlegen, auf welche Weise sie den verschiedenen Versuchen, sie zu falsifizieren, standgehalten hat: man muss also den Grad ihrer Bewährung bestimmen. In diesem Argumentationskontext wird der entscheidende Versuch als falsifizierender Versuch betrachtet, der eine Theorie endgültig widerlegt, auch wenn er nicht die Gültigkeit einer anderen Theorie beweisen kann.

Wir können uns vorläufig auf diese erste synthetische Annäherung an den Gesichtspunkt Poppers, mit besonderer Aufmerksamkeit auf seiner allgemeinen Anschauung der Wissenschaft, beschränken.

Unsere Wissenschaft ist nicht Erkenntnis, behauptet Popper. Deshalb kann sie nie verlangen, die Wahrheit erreicht zu haben, noch einen Vertreter der Wahrheit, wie zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit. Wir wissen nicht, wir können nur raten. Und unsere Versuche zu raten sind von einem nicht-wissenschaftlichen, metaphysischen Glauben an die Gesetze geleitet. Popper glaubt, dass der Fortschritt der Wissenschaft vom freien Wettstreit des Denkens und deshalb von der Freiheit abhängt. Die wissenschaftliche Theorie wird – innerhalb dieser argumentativen Anlage – zur Konjektur, zur gewagte Hypothese, zum freien Gedankenspiel. Der entscheidende Versuch dient zur endgültigen Widerlegung einer bestimmten Theorie und ermöglicht gleichzeitig die Entstehung einer neuen, „gut bekräftigten" Theorie.

Ausgehend von diesen Prämissen, kann sich die epistemologische Auslotung nur post festum, nach vollendeter Tat, entwickeln, ohne aber konstruktiv auf den Entwicklungsverlauf der analysierten wissenschaftlichen Theorie wirken zu können. Mit anderen Worten: Die Untersuchung der Wahrheitsansprüche einer Theorie erfolgt nicht durch die Bewertung ihrer historischen und empirischen Grundlagen, weil die Theorie selbst, wie gesagt, als gewagte Hypothese, Konjektur, als freies Gedankenspiel betrachtet wird, und die Berufung auf die Erfahrung kann sie nur dann falsifizieren, wenn sie schon ein Netzwerk von Begriffen, Hypothesen und Gesetzen aufgebaut hat.

Ohne hier eine gegliederte und durchdachte Widerlegung dieser Thesen entwickeln zu wollen, können wir uns auf eine erste kritische Bemerkung beschränken. Wissenschaften wie die Psychiatrie oder die klinische Medizin, die zu einem aktiven Eingriff auf den Menschen, auf sein Unbehagen und auf seine Pathologien bestimmt sind, können es sich nicht leisten, das Vorbild der Erfahrung zu ignorieren und somit ihre soziale Rechtfertigung und ihre theoretische Stichhaltigkeit auf eine nicht besser bestimmte „Gedankenfreiheit", oder auf einen ebenso unklaren Begriff von „metaphysischen Glauben" an das Gesetz zu gründen. Die Auseinandersetzung mit der Erfahrung stellt einerseits eine sehr enge epistemologische Bindung, die im induktivistischen Bereich weitgehend behandelt worden ist, dar, andererseits ist sie auch eine ethische Instanz, der man im Bereich einer klinischen Praxis kaum ausweichen kann.

Um den engen Zusammenhang zwischen ethischen Entscheidungen und epistemologischen Begriffen zu erfassen, muss man die Überzeugung aufgeben, dass die physisch-mathematischen Modelle einen grundlegenden und beispielhaften Wert haben, und infolgedessen dem disziplinären Bereich, der von den life sciences bis zu den Humanwissenschaften geht, besondere Aufmerksamkeit schenken: ein Bereich, in dem die ethisch-politische Ausrichtung einen direkteren – oder vielleicht nur sichtbareren – Einfall auf die Strukturen des Paradigmas darstellt.

Der gesamte logische Empirismus, der immer die „strengen" Wissenschaften bevorzugt hat, hat immer versucht, die „Fragen über die Tatsachen" von den „reinen Wertfragen" zu unterscheiden. Somit hat er "den nicht kognitiven Charakter der Wertbehauptungen" bekräftigt. Wie Abraham Kaplan, den Wittgenstein des Tractatus zitierend, unterstrichen hat, können im logischen Empirismus „keine ethischen Propositionen vorkommen", da „die Ethik" selbst definitionsgemäß „transzendental" ist. Kaplan beobachtet: „Auf Grund dieser Einstellung hat der logische Empirismus einigen ironischen Bemerkungen Anlass gegeben, und zwar für sein Bestehen auf die Bedeutung der Logik in allen Gebieten außer in den wichtigen Problemen des Lebens".

In den life sciences und den Humanwissenschaften und besonders in der klinischen Psychiatrie, kann sich die ethische Entscheidung als wesentlicher und konstitutiver Bestandteil der episteme erweisen, und jedes Interpretationsmuster, das diese zwei Dimensionen streng trennt, läuft die Gefahr, ein verdinglichtes Bild der wissenschaftlichen Arbeit zu liefern, innerhalb dessen das Wissen auf eine bloße Reihe von Aussagen und auf eine abstrakte Beziehung zwischen den Behauptungen (mit kognitivem Wert), den Begriffen, den Hypothesen und den Gesetzen reduziert wird.

In dieser Auffassung wird die Ethik als den Prozessen der Produktion der wissenschaftlichen Wahrheit fremd betrachtet: Sie bleibt in einem epistemologisch belanglosen Randgebiet verbannt, das – wie es die logischen Empiristen sagen würden – von Behauptungen beherrscht wird, die überhaupt keinen kognitiven Wert haben.

Die Berufung auf die Erfahrung – als bevorzugter Grund, auf dem das Theoriengebäude gebaut wird und nicht nur als bloßer Boden für die Bestätigung oder die Falsifikation einer Theorie – stellt, wie gesagt, eine ethische Instanz und gleichzeitig eine epistemologische Bindung dar. In dieser Perspektive sollte eine induktive probabilistische Logik kritisch neu gedacht werden, und zwar außerhalb des Imperialismus der mathematisch-physischen Muster und innerhalb einer wesentlichen Annahme der Vielfalt an Argumentationsstilen, die die zeitgenössische wissenschaftliche Landschaft kennzeichnet. Die Berufung auf die Erfahrung, die Verwendung von logischen Verfahren induktiver Art (selbstverständlich in ihrer besonderen Beziehung mit hypothetisch-deduktiven Verfahren), das Bewusstsein des relativen Wertes der Gesetze (eben probabilistische und nicht absolute Gesetze) sind das Tragwerk einer neuen post-empiristischen Anschauung der Wissenschaft. Eine Anschauung die bereit ist, die Komplexität und die nicht konventionelle, nicht willkürliche, sondern relative und deshalb zutiefst historische Bedeutung der verschiedenen wissenschaftlichen Theorien zuzugeben. Zwischen Erfahrung und Geschichte herrscht eine wesentliche Kontinuität, die in der Epistemologie noch nicht ausreichend thematisiert und erforscht worden ist.

In der Medizin, in der Psychiatrie und in der Psychologie eine Theorie zu bearbeiten bedeutet auch, sich für die Subjekte, auf die diese Theorie angewandt wird, verantwortlich zu machen: dieselben Subjekte, die die „empirische Grundlage" der Theorie selbst verkörpern. Die – distanzierte aber beteiligte – Beobachtung beeinflusst das Verhalten der beobachteten Subjekte, gerade wie in der Mikrophysik, mutatis mutandis, der Beobachtungsakt das beobachtete Phänomen verändert. Viele haben es bereits behauptet: Es ist sehr schwierig, die empirischen Tatsachen als grobe und vom Beobachter völlig unabhängige Daten zu sehen. Für Duhem und Quine ist die Beobachtung immer mit Theorie beladen: Sie würde also die Theorien, die Werte, di Mentalität, die Vorgangsweise des beobachtenden Subjekts einbegreifen. Wer ohne Vorbehalte diesen Schlussfolgerungen zustimmt, wird notwendigerweise die Wirksamkeit der induktiven Folgerung infrage stellen und somit die Niederlage einer konsequent empiristischen Perspektive unterstreichen.

Ich bin überzeugt, dass es heute, besonders in der Psychiatrie, notwendig ist, diesen epistemologischen Engpass zu überwinden und einen Zugang zur – noch nicht konzeptualisierten – „Beobachtungsstütze" der wissenschaftlichen Erkenntnis zu suchen: Bevor die empirischen Tatsachen zu logischen Verhältnissen werden; bevor das Begriffliche und das Empirische deckungsgleich werden; bevor also die Beobachtungsdaten in den Prozess der Objektbildungzusammenfließen, durch die zweifache Bewegung der „Klassifizierung" und der „Verdinglichung".

Man muss in der Klinik eine radikale Rückkehr zum Vorrang der unmittelbaren Erfahrung und dadurch eine Möglichkeit, die empirischen Tatsachen (in diesem Fall das menschliche Verhalten) durch ein aktives Zurückhalten des Urteils anregen: eine Form von epoché, im Sinne Husserls, oder, wenn man es vorzieht, durch eine Form geistiger Leere, die durch einen problematischen Dialog mit der taoistischen Weisheit und dem Zen-Buddhismus, der weit entfernt ist von jedem mimetischen Schematismus, erleichtert werden könnte.

Es handelt sich darum, in unserem beobachtenden Bewusstsein eine weiße Zone zu schaffen, die bereit ist, die Gegenwart des anderen aufzunehmen: seinen Körper, sein Gesicht, sein Wort, sein Verhalten, seine Frage nach Fürsorge, seine Art, in der Welt zu sein, sein Mit-sein, seine Art, das Mit-sein zu erleben. Wenn man die abendländischen institutionellen Rollen und die geistigen apriori in Klammern setzt – was für uns Abendländer eine schwierige und nicht abgerechnete konstruktive Tätigkeit ist, die das kritische Bewusstsein unserer Geschichtlichkeit voraussetzt – stellt man sich auf die Aufnahme des anderen ein: bereit, innerhalb des leeren Raumes des Bewusstseins, den Einbruch und die Verbreitung einer Vielfalt und einer Verschiedenartigkeit von empirischen Tatsachen (dienackten Tatsachen, von denen Epstein spricht) anzunehmen – auch diejenigen, die mit unseren Theorien und mit unserer Kultur völlig unvereinbar scheinen. Dies bedeutet, sich dem Patienten – oder im Allgemeinen dem anderen – gegenüberzustellen: „ohne Erinnerung und ohne Wünsche", wie Bion gesagt hat, in dem besonderen Zustand „der nackten Aufmerksamkeit ohne Gegenstand", die „es den Dingen ermöglicht, für sich zu sprechen".

 

Ein mühsamer Weg, der gewiss eine geduldige Selbstanalyse voraussetzt, eine Arbeit an sich selbst – die die Psychoanalyse zu kodifizieren und zu institutionalisieren versucht hat – und die Fähigkeit, die eigene Geschichte kritisch durchzusehen, um sich davon zu befreien: eine Art von epistemologischer Askese aber auch eine existentielle Entscheidung, die tief im Boden der Beziehungsethik wurzelt. Eine Seins– und gleichzeitig auch eine Denkweise: eineTechnologie des Sichs, eine „philosophische Übung", deren Einsatz darin besteht zu wissen, „in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken".

Ich bin überzeugt, dass eine bestimmte Art, das Netz zu verwenden, eine solche epistemologische Askese ermöglicht, nämlich dadurch, dass sie zur Bildung eines neuen Blickes auf die Welt beiträgt: ein Blick, der – wenigstens der Neigung nach – frei von der Hypothek unserer Theorien und von der Bindung unsererVor-urteile.

Diese Askese ist nur dann denkbar, wenn man die epistemologische Arbeit von ihren grundlegenden und preskriptiven Ansprüchen befreit. Die Krise und „die Zurückstellung der grundlegenden Epistemologie" (Rorty) – d.h. einer Auffassung, die dem Philosophen die Rolle des „Wärter der Rationalität" zuweist – ermöglicht die Bildung eines innovativen theoretischen Spielraumes, den Rorty als hermeneutisch bezeichnet, und den ich lieber epistemologisch nenne: ein Spielraum für eine neue – gleichzeitig kritische und historische – nicht grundlegende Epistemologie, die auf die verschiedenen Zusammenhänge und auf den möglichen Dialog verschiedener Paradigmen (die grundsätzlich nicht miteinander "kommensurabel" sind) aufmerksam ist.

Geben wir nun Rorty das Wort. Dabei möchte ich klarstellen, dass einige Aufgaben, die der amerikanische Philosoph der Hermeneutik zuschreibt, völlig mit meinem Versuch einer neuen psychiatrischen Epistemologie vereinbar sind: eine post-empiristische Epistemologie, die ich vorläufig Epistemologie des Anschlusses und des Dialogs bezeichnen werde.

Man darf die Rollen, die der Philosoph spielen kann, nicht durcheinander bringen. „Erstens nämlich kann er die Rolle des informierten Dilettanten übernehmen, des Polypragmatikers, des sokratischen Vermittlers unterschiedlicher Diskurse. In seinem Salon werden hermetische Denker sozusagen aus ihren in sich geschlossenen Praktiken hinauskomplimentiert. Meinungsverschiedenheiten der Disziplinen und Diskurse untereinander werden im Verlauf des Gesprächs einem Kompromiss zugeführt oder transzendiert. Zweitens kann er die Rolle des Kulturinspektors spielen, der die gemeinsame Grundlage aller kennt – des Platonischen Philosophenkönigs, der weiß, was alle anderen in Wirklichkeit tun, ob sie es nun wissen oder nicht, weil er den unhintergehbaren und unvordenklichen Kontext kennt (die Formen, die Sprache, das Bewusstsein), in dem es sich abspielt. Die erste Rolle entspricht der Hermeneutik, die zweite der Erkenntnistheorie. Die Hermeneutik betrachtet die Beziehungen der unterschiedlichen Diskurse zueinander als Beziehungen zwischen den möglichen Strängen eines Gesprächs, das seinerseits keines die Sprecher verbindenden disziplinären Systems bedarf, das jedoch, solange es währt, die Hoffnung auf Übereinstimmung nie aufgibt".

Meine Entscheidung, eine andere Terminologie zu verwenden, hängt von genauen theoretischen Gründen ab. „Zusammenhänge schaffen" – eine „hermeneutische" Tätigkeit, die Rorty als „aufbauend" bezeichnet – entspricht, besonders in der Psychiatrie, dem Versuch, innerhalb der klinischen Arbeit, therapeutisch produktive Verbindungen zu schaffen zwischen verschiedenen Paradigmen, zwischen unterschiedlichen Wissensformen, zum Vorteil des Patienten und seines Bedürfnisses, versorgt und geheilt zu werden. Um meinen Standpunkt zu erklären, möchte ich an die Definition von Medizin, die Georges Canguilhem formuliert hat, erinnern:eine Summe der angewandten Wissenschaften in ständiger Entwicklung. Diese Definition könnte – leicht verändert – auf die klinische Psychiatrie ausgedehnt werden. Somit könnte die Lage der Psychiatrie als Wissenschaft an der Grenze zwischen life sciences und Humanwissenschaften respektiert werden. Wir könnten also genauer von einer Summe der angewandten Wissenschaften und des Wissens in ständiger Entwicklung sprechen.

„Warum Summe?" schreibt Canguilhem. "Weil für uns der Begriff Summe nicht nur das Bild eines Additionsproduktes, sondern auch das einer Einheit der Operation, hervorruft. Man kann weder die Physik noch die Chemie als Summe bezeichnen. Man kann es aber mit der Medizin tun, und zwar dadurch, dass das Objekt, dessen interrogative Gegenwart aus methodologischen Gründen von dieser aufgehoben wird" – und zwar handelt es sich um den Kranken als Person und „Ziel der Fürsorge" – „trotzdem immer gegenwärtig ist, dadurch dass es die menschliche Form angenommen hat: ein Mensch, der ein Leben lebt, wovon er weder Autor noch Herr ist und der sich manchmal, um zu leben, einem Vermittler anvertrauen muss. Welche auch immer die Komplexität und Künstlichkeit dieser technischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Vermittlung der Medizin auch sei, welche auch immer die Dauer der Zurückstellung des Dialogs zwischen Arzt und Krankem auch sei, die Entscheidung der Wirksamkeit gründet immer auf diese Art des Lebens, dargestellt von der Individualität des Menschen. Im epistemologischen Unterbewusstsein des Arztes macht die zerbrechliche Einheit des menschlichen Lebewesens die wissenschaftlichen Anwendungen, die immer häufiger herangezogen werden, um ihm zu dienen, zu einer realen Summe".

Die „Entscheidung" der therapeutischen „Wirksamkeit" führt also zu einer „Einheit der Operation", die den Arzt dazu bringt, besondere angewandte Wissenschaften – d.h. besondere Paradigmen, aufgewertet und angewandt in ihrer praktischen und operativen Dimension – zu verbinden und zu summieren. Es ist bemerkenswert, dass im 19. Jahrhundert die Ärzte selbst für ihre Disziplin die Bezeichnung angewandte Wissenschaft beansprucht haben, als sie „in der Therapeutik physische und chemische, von den Physiologen eigen gemachte Determinismen, importiert haben".

Es wäre angebracht, für die Psychiatrie eine ähnliche Überlegung zu machen, ausgehend von der Untersuchung der Bezeichnungen einiger wichtiger und verfestigter Disziplinen: biologische Psychiatrie, Neuropsychiatrie, Ethnopsychiatrie, phänomenologische Psychiatrie, dynamische Psychiatrie, usw. Das Verhältnis zwischen der psychiatrischen Erkenntnis und seinen „Gegenständen" und gleichzeitig das regulative Ideal, einen Zusammenhang zwischen diesen Gegenständen zu schaffen, behaupten sich sozusagen durch innere Wege, d.h. durch besondere wissenschaftliche und klinische Methoden, so wie sie sich innerhalb jeder einzelnen Disziplin eingestellt und entwickelt haben.

Einen Zusammenhang schaffen ist, wie Rorty sagen würde, nur dann eine produktive und klinisch wirksame Tätigkeit, wenn sie sich innerhalb einer tatsächlich angewandten wissenschaftlichen Methode entwickelt: Dabei ist es nebensächlich, ob das Subjekt, das diesen Zusammenhang theoretisiert, der Wissenschaftler, der Epistemologe oder der Philosoph ist.

3. Der Psychonaut im Netz: ein anthropologischer Ansatz

Im Falle der Psychiatrie ist der günstige Humus für den Zusammenhang bestimmt nicht der „Salon" des Hermeneuten, sondern die Lebenswelt (im Sinne Husserls), die soziale und territoriale Welt, das Krankenhaus, die Dienstleistungen, die Gemeinschaft, das Laboratorium, das therapeutische setting und auch – wie ich hoffe – das Netz. Die epistemische Funktion ist, anders ausgedrückt, eine innere Instanz der wissenschaftlichen Tätigkeit, und nicht eine äußere „hermeneutische" Aktivität des Philosophen: d.h. des einfallsreichen Dilettanten, des geschickten Voyeurs, des erfahrenen Vermittlers, in der Konversationskunst bewandert und in der Ausübung der Toleranz geschult.

Diese epistemische Funktion ist also nicht mehr das Ergebnis der Folgerung der Kriterien der Wissenschaftlichkeit aus den apriorischen Kategorien des Verstandes, die im Raume verschiedener „strenger" Wissenschaften als herrschende Muster der wissenschaftlichen Erkenntnis wirken. Vielmehr tritt sie jeweils neu aus den Problemstellungen und aus der konkreten historischen Entwicklung der verschienen regionalen Ontologien.

Die Entwicklung einer inneren epistemischen Funktion kann im Falle der Psychiatrie auch durch ihre Verwurzelung im Netz erleichtert werden: durch telematische Zeitschriften, mailing-lists, chat-lines, Diskussionsforen, oder sogar durch Versuche von Psychotherapie oder von psychotherapeutischer Beratung im virtuellen Bereich.

Ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung als Erforscher des cyberspace und von meiner aktiven Teilnahme an der psychiatrischen Diskussion im Netz, wird es möglich sein, auf epistemologischer Ebene den Einsatz dieser Erfahrungen hervorzuheben, die im 21. Jahrhundert noch einen bahnbrechenden und radikal innovativen Charakter haben.

Für denjenigen, der im psychiatrischen Bereich tätig ist, kann der Umgang mit dem Netz eine Tätigkeit sein, die seinen Blickwinkel auf das Sozialwesen erweitert und somit auf das menschliche Verhalten, wie es sich außerhalb des therapeutischen settings und unabhängig vom institutionellen Umkreis der psychiatrischen Betreuung ausdrückt.

In einem anderen Beitrag habe ich bereits von der möglichen Erforschung durch das Internet des perversen Verhaltens gesprochen. Der Perverse weist bekanntlich normalerweise jede Psychotherapie zurück; falls er sie aber doch akzeptiert, erweist er sich – wie es eine inzwischen umfangreiche Literatur bezeugt – als eines Subjekte, die am unempflindlichsten gegen die Behandlung sind und die am stärksten zu oft unüberwindlichen Widerstandsstrategien neigen.

Der Netzsurfer-Psychiater – den ich kurz Psychonaut nennen werde – der gewisse chat-lines besucht (z.B. diejenigen, die durch das IRC-Programm zugänglich sind), begegnet leicht dem perversen Subjekt. Geschützt durch die Anonymität, die ihm IRC garantiert, wird er leicht darauf verzichten können, sich in seiner professionellen Gestalt vorzustellen. Er wird sich mit diesem Subjekt ohne den Schutz seiner Rolle unterhalten und somit leicht seine Bildungsgänge, seine Interpretationsmuster, seine geistigen apriori in Klammern setzen können. In der Begegnung im Netz mit dem Perversen, wird es ihm leichter fallen, epoché zu machen, wie schon gesagt: fair vide, das Niveau der nackten Aufmerksamkeit ohne Gegenstand erreichen, das, um es wieder mit Epstein zu sagen, „den Dingen ermöglicht, für sich zu sprechen". Die Verwendung des Netzes führt in diesem Fall einen zweifachen Vorteil mit sich:

1. Das perverse Subjekt ist in höherem Maße bereit, seine Erfahrungen und seine Phantasien mitzuteilen, ohne zu Widerstandsstrategien greifen und sich der „Behandlung" widersetzen zu müssen, und zwar dadurch, dass er das Gespräch im Netz nicht als therapeutische Erfahrung erlebt. Das perverse Benehmen wird somit ohne Verzögerung kundgegeben, mit einer Vielfalt und einem Reichtum an Details, die innerhalb des settings nicht leicht verfügbar sind.

2. Durch die epoché kann der Psychonaut gänzlich und ohne Schutzschranken den psychologischen Widerhall erleben, den die „perverse" Erzählung in ihm hervorruft: Er „nimmt ihn auf" – um ein Freudianisches Muster anzuwenden, könnten wir sagen, dass er imstande ist, seine eigenen latenten perversen Seiten – und ist also dazu geneigt, einen gewissen Grad an Empathie innerhalb des virtuellen Gesprächs zu erreichen, und zwar zum Vorteil einer größeren kommunikativen Freiheit. Der Austausch von Worten und Gefühlen zwischen dem Perversen und dem Psychonauten gehört selbstverständlich nicht einem Wahrheitsregime – z.B. dem der Psychiatrie – an, das von Prinzipien der Ausschließung geregelt, durch Prozeduren der Kontrolle organisiert und durch eine bestimmte institutionelle Basis gerechtfertigt wird. Die Tatsache, dass dieser Austausch von Worten und Gefühlen – wenn er empirisches Material wird, das konzeptualisiert werden muss – eventuell in die Schichten eines Wissens einfließen kann, hindert seine grundlegende extra-disziplinäre Kollokation nicht. Anders gesagt, drückt der Austausch von Worten und Gefühlen eine gewisse Wahrheit der Perversion aus, aber er ist noch nicht, wie Georges Canguilhem sagen würde,im Wahren: Es gehört nicht zum geregelten Raum einer Disziplin. „Es ist immer möglich – wie Foucault behauptet, indem er das Beispiel von Mendel heranzieht – im Raum eines wilden Außen die Wahrheit zu sagen; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven Polizei gehorcht", eine Polizei die innerhalb der Arten, eine wissenschaftliche Wahrheit zu erzeugen, immer gegenwärtig und wirkend ist. Aber gerade aus diesem wilden Außen kann und muss die klinische Psychiatrie schöpfen, um ihre empirische Prägnanz und ihre anthropologischen Breitengrade auf die Probe zu stellen.

Ich möchte diese nicht (oder vor-) therapeutische Haltung als anthropologisch-bildende Annäherungsweise an das Netz bezeichnen, die eine Bereicherung des Erfahrungsbereiches fördert und somit den Zugang zur Erfahrung (der anderen und der Welt), bevor diese durch im Voraus gebildeten Interpretationsmustern filtriert und konzeptualisiert wird. Auf diese Weise wird es leichter fallen, die anthropologische Basis der empirischen Bestätigung zu erweitern, die als Instrument der Kontrolle und als Ansporn zur Bildung von neuen Theorien dient: Theorien, die der Qualität und der Vielfalt der hervorgekommenen Beobachtungsdaten angemessenen sind.

Eine anthropologisch-bildende Annäherungsweise an das Netz ermöglicht uns, wie gesagt, den Zugang zum anderen und zur Welt, ohne unsere geistigen aprioriund unsere Theorien heranzuziehen. Aber diese epoché – diese Schaffung einer geistigen Leere, die uns auf die Annahme und auf das Zuhören vorbereitet – ist das Ergebnis einer andauernden Arbeit an sich selbst. Sie ist ein Produkt, eine Konstruktion, und bestimmt keine „Urerfahrung", die unsere „ursprüngliche Komplizenschaft mit der Welt" kundgeben würde. Eine solche Philosophie der Urerfahrung würde uns vom Bewusstsein des spezifischen historischen Weges entfernen, der uns zur Aufhebung unseres kategoriellen Gerüstes und zur Niederlage des Ichs als urteilende Instanz geführt hat: Unsere eigene epistemologische Askese – Ergebnis eines selbstaufbauenden Prozesses und Voraussetzung für eine Umgestaltung der Psychiatrie – wäre somit auf die unmittelbaren Daten unseres Bewusstseins platt gedrückt; Daten, die ein „ursprüngliches Wiedererkennen" der Erfahrung mit sich führen und deshalb völlig selbständig und innerhalb der grundlegenden Prozesse einer wissenschaftlichen Disziplin unbrauchbar sind.

Mir scheint, dass die Epistemologie einer Wissenschaft die Analyse dieser vor-kategorialen Erfahrung, die irgendwie als verkannte Sinngrundlage ihres Wahrheitsregimes funktioniert, auf sich nehmen muss. Das Netz kann, in dieser Perspektive, eine ausgezeichnete Erkenntnisquelle werden.

Die extreme Heterogenität der Beobachtungsdaten, die dem Psychonauten zugänglich sind, wird nie genügend betont werden. Dieser muss aber imstande sein, auf seine epistemologische Hybris zu verzichten: Trotz der Vereinheitlichung, die mit dem universalen Charakter der informatischen Sprache und der Netztechnologien verbunden ist, sind die vom Internet übermittelten individuellen und sozialen Realitäten verschieden und unterschiedlich. Durch interaktive Internetsiten, die MUDs (wahrhafte Salons der virtuellen Simulation), das ICQ-Programm und die IRC-Kanäle – wo man leicht dialogisieren und sich Bilder, Fotos und Filme zusenden kann – hat der Netzsurfer Zugang zu virtuellen Individuen, Gruppen, Gemeinschaften, die vereinigt sind aus kulturellen, ludischen, psychologischen, ideologischen, sexuellen Gründen oder auf Grund von ethnischen, religiösen, politischen Interessen: Gays, Lesben, unkonventionelle Paare, Fetischisten, Exibitionisten, Sadomasochisten, Perverse aller Art, netzsüchtige Subjekte, aber auch Philosophen, Feministinnen, Anarchisten, Kommunisten, Heuchler, hackersCartoon-und Manga-Begeisterte, Melomane, oder unterdrückte Minderheiten, Indianer, die Aborigenes Australiens, die Chapas, usw.

Der Psychonaut hat – im Augenblickt, wo er ein Nomade des Netzes wird – zweifellos Zugang zu einer Vielfalt von sozialen Situationen und psychischen Gestaltungen, die ihn später dazu führen werden, die theoretischen Voraussetzungen und die kategoriellen Wissensschemata zu problematisieren. DerNomadismus ist, innerhalb und außerhalb des Netzes, eine existentielle Entscheidung und ein Erkenntnisweg: Er kann dazu beitragen, die empirische Basis der Wissenschaften der Psyche zu erweitern, und zwar durch eine festere Verankerung im Alltag und in den individuellen und kollektiven Lebensstilen, die anfänglich außerhalb der Schutzgrenze der Disziplinen wahrnehmbar sind.

Die anthropologisch-bildende Herangehensweise an das Netz stellt, meiner Meinung nach, ein ausgezeichnetes Instrument und eine Möglichkeitsbedingung für eine wahrhafte fallibilistische Toleranz dar: eine kostbare Gelegenheit, Begriffe und Theorien fortwährend auf die Probe zu stellen.

4. Begriff und Ereignis

Die nosographischen Kategorien der Psychiatrie – so wie die der medicina mentis vor der Errichtung der Asyle – stammen direkt von der empirischen Beobachtung der Verhaltensweisen. Davon behalten einige in der Zeit eine relative Stabilität, die vom Beibehalten des Ausdrucks bezeugt wird; zum Beispiel dieManie und die Melancholie, die schon zu Beginn der abendländischen Medizin existierten, überleben noch heute, auch wenn mit verschiedenen Nuancen und Bedeutungen. Einige anderen, die heutzutage noch im Gebrauch sind – wie zum Beispiel die Neurose und die Psychose – stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verweisen selbstverständlich auf die Namen ihrer Väter. Andere wiederum – wie die Monomanie und die Lypemanie, die mit der Gestalt Esquirols und der Geburt der modernen psychiatrischen Klinik verbunden sind – erleben einen langsamen und irreversiblen Untergang im Laufe von einigen Jahrzehnten.

Trotz ihrer unumstrittenen Verankerung in den Beobachtungsdaten werden die nosographischen Kategorien – vor allem diejenigen, die in der Zeit eine relative Stabilität behalten – manchmal als Anzeiger einer wesentlichen Gestaltung der menschlichen Kondition gesehen, betrachtet in ihrem normalen und pathologischen Zustand. Es ist zum Beispiel bei der Melancholie der Fall: Sie wurde sowohl von der Platonisch-Aristotelischen Philosophie als auch von der klassischen griechischen Medizin untersucht und je nachdem als Temperament oder als Pathologie behandelt. Hubertus Tellenbach behauptet in dieser Hinsicht, dass die griechischen Autoren – obwohl sie „von einem Modus der Empirie, der absolut nicht mit unserem verwechselbar ist" – sich auf die „wesentlichen Formen der menschlichen Kondition" und im Besonderen auf die „wesentliche Form des melancholischen Daseins" konzentriert haben. Derselbe Ansatz wird wieder herangezogen, um den „zweitausendjährigen Widerhall" der Aristotelischen Theorie, die Genie und Melancholie verbindet, zu erläutern: „Man kann annehmen, dass Aristoteles unter dieser Idee viel mehr als eine philosophische Variation über ein ärztliches Thema verstand; es kann sogar sein, dass er zu einem wesentlichen Nachweis unter dem anthropologischen Standpunkt gekommen ist".

Die essentialistische Anschauung einiger psychiatrischer Begriffe – radikal zurückgewiesen von demjenigen, der das Andauern des Ausdrucks nur für eine sprachliche Unterlage einer fortdauernden diachronischen Veränderung der Inhalte hält – führt jedenfalls zur Überzeugung, die anthropologischen Konstanten der menschlichen Kondition gefunden zu haben und infolgedessen auch zum Anspruch auf die Vernachlässigung der empirischen Wurzel der nosographischen Strukturen, d.h. ihrer überprüfbaren kulturellen Relativität und ihrer einleuchtenden historischen Variabilität. Die Ethnopsychiatrie und die Ethnopsychoanalyse sind bekanntlich entstanden, um diesem essentialistischen und universalistischen Anspruch entgegenzuwirken.

Es handelt sich darum, die nosographischen Begriffe der Psychiatrie neu zu denken: und zwar durch die genaue Bestimmung ihrer Abhängigkeit vom Beobachtungsprozess, ihrer Zugehörigkeit zu einer sozio-kulturellen Situation, ihrer Beziehung zu den kontingenten Ereignissen, zu einem institutionellen Terrain und mit den Praktiken, die sie wirkend machen. Wenn man die Begriffe als Beziehungsvektor sieht, kann man die Bestandteile ihrer Immanenzebene (wie ich sie bezeichnen möchte) erkennen: eine vor-kategoriale und vor-psychiatrische Ebene, die die Gesamtheit dieser Bestandteile und die Möglichkeit der Begriffsbildung darstellt.

Eine psychiatrische Debatte im Netz – wie die der mailing-list der telematischen Zeitschrift „Polit" – kann den Zugang zur Immanenzebene der Begriffe erleichtern: ihre Diskontinuitäten, ihre ständigen Schwankungen, ihre unregelmäßige Physiognomie. Diese Ebene skandiert das Leben der nosographischen Begriffe: Obwohl sie sich – als vor-psychiatrischer Horizont – von ihnen unterscheidet, gehört sie trotzdem zu ihrer Funktionsgestaltung, zu ihrer eigenen Möglichkeit, zu existieren, die Therapie zu orientieren, Bedeutungen zu schaffen. Die Untersuchung eines Begriffes und seiner Beziehungen macht die nicht-konzeptuellen Faktoren und die nicht-diskursiven Ereignisse, die seine Erscheinung skandieren, sichtbar: die Beschaffenheit und die Adressaten der empirischen Beobachtung, der sozio-kulturelle Hintergrund, der Kontext der kontingenten Vorfälle, der operative Charakter der Praktiken, die institutionelle Einbeziehung.

Deleuze und Guattari schreiben: „Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst". Um diese Aussage auf die Psychiatrie auszudehnen, würde ich also sagen: Das Nicht-Psychiatrische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Psychiatrie als die Psychiatrie selbst. Mit einem wesentlichen Unterschied: Der psychiatrische Begriff führt – im Unterschied zum philosophischen – auf direktere und zwingende Art und Weise den Horizont der institutionellen Praktiken und Kontexte mit sich, auch wenn seine durchwegs theoretische Formulierung die Gefahr läuft, die Immanenzebene, die ihn einführt und wirkend macht, zu verschleiern. Die existenzialistische Auffassung des Begriffs, die schon von Tellenbach vorgeschlagen wurde, stellt einen der stärksten und gefährlichsten Faktoren, die diese Verschleierung fördern, dar.

Mit dem Ausdruck Ereignis, in seiner weitesten Bedeutung, meine ich jeden der möglichen pre-kategoriellen Faktoren, die die Immanenzebene der Begriffe bezeichnen. Man könnte genauer sagen, dass die Gesamtheit solcher Faktoren der Bereich der nicht-diskursiven Ereignisse ist, die den psychiatrischen Horizont kennzeichnen.

Der Vorteil einer telematischen Debatte unter Psychiatern – gegründet zum Beispiel auf die Briefe, die einer spezifischen mailing-list gesendet werden – zeichnet sich gerade durch die kommunikative Unmittelbarkeit aus. Diese ist weit entfernt von den Formen des wissenschaftlichen Beitrags und viel näher den Entwicklungsmöglichkeiten des unförmlichen Gesprächs. Dadurch ist sie der Sachlichkeit des Ereignisses: d.h. der Alltagserfahrung, den Praktiken und dem Erlebnis der Ärzte und der Patienten näher.

Oft wird das biographische und „pathologische" Profil eines Patienten auf problematische Weise vorgestellt, indem seine mögliche Verbundenheit mit einer bestimmten psychiatrischen Kategorie absichtlich offen (für eine Diskussion) gelassen wird. Dem selektiven und reduktionistischen Charakter derKrankengeschichte – so wie er oft in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen und in den schulmäßigen institutionellen Seminaren zutage tritt – folgt einerzählender Stil, ein Stil der den existentiellen Details größere Aufmerksamkeit schenkt und weniger darauf achtet, ihre Zugehörigkeit zu einem nosographischen Schema zu bestimmen (oder vorzubestimmen). Dem Beobachtungsprozess wird also eine breite Autonomiespanne zugewiesen, unabhängig von der Theorie, die ihn einschließen könnte. Die Anwesenheit in der mailing-list von Experten, die verschiedenen Schulen und Disziplinen angehören, fördert diese weniger aprioristische Haltung, die zu einer Aufwertung der Vielschichtigkeit der empirischen Bestätigung neigt und die grundlegend offen ist für verschiedene theoretische Ausarbeitungen. Eine Lebensgeschichte wird, mit anderen Worten, in der Anfangsphase „erzählt", die ihrer Konzeptualisierung vorausgeht und diese ermöglicht: d.h. bevor sie auf eine Krankengeschichte reduziert wird.

Die zentrale Rolle dieser erzählenden Funktion, die von den Netzpraktiken hervorgehoben wird, ermöglicht es dem Psychiater, die Umwandlung des kranken Subjektes in Krankheit (als natürliche und abstrakte Einheit) infrage zu stellen, und zwar zu Ehren des Prinzips der verschiedenen DSM, die in der Zeit aufeinander gefolgt sind. Man erzählt nicht eine Depression, sondern die Lebensgeschichte eines Depressiven. Dabei wird man – vorausgesetzt, dass man es für notwendig hält – nur in einer zweiten Phase bestimmen, welcher depressiven Typologie seine Symptome und seine Art, in der Welt zu sein, angehören. Es kann auch vorkommen, dass die erzählte Geschichte nicht gänzlich in einer Typologie (oder in einer einzigen Typologie), die vom psychiatrischen Wissen schon genau umrissen wurde, einschreibbar ist. In diesem Fall wird es notwendig sein, die bereits existierenden nosographischen Instrumente neu zu formulieren oder zu verändern – oder ex novo zu schaffen -, um sie geeigneter für die Konzeptualisierung der neuen Beobachtungsdaten zu machen. Auf dieser Ebene können wir Quine bestimmt nicht folgen, wenn er uns – für die Naturwissenschaften – die enge Interdependenz zwischen den Klassifizierungs -und den Verdinglichungsprozessen der beobachteten Phänomene zeigt, wenn sie zu Objekten „gemacht" werden. Es handelt sich wennschon darum, die Verdinglichung der Klassifizierung rückgängig zu machen. Somit könnte sie zu einem flexiblen Instrument, einer Funktion der historischen Zeit und des kulturellen Raumes, werden: zu ständigen Modulationen fähig, die den existentiellen Eigentümlichkeiten der begegneten und erzählten Subjekte angemessen sind.

In den Diskussionen zwischen „Experten" der Geisteskrankheit, die sich in der mailing-list entwickeln, habe ich oft ein besonders interessantes Phänomen beobachtet: Der nosographische Begriff wird von der so genannten Begriffsperson (Deleuze und Guattari) ersetzt, die in unserem Falle etwas mehr und etwas weniger als der abstrakte Typus ist, der seine Eigenschaft von den pathologischen Einheiten des psychiatrischen Wissens erhält (vgl. den von Tellenbach thematisierten typus melancholicus). Etwas mehr: Obwohl die Begriffsperson irgendwie auf ein bereits existierendes System von Kategorien verweist, setzt sie sich vor allem auf Grund der zentralen Rolle ihrer Charakterzüge und auf Grund der unerschütterlichen Eigentümlichkeit ihrer Kontexte und ihrer Lebensgeschichte durch. Etwas weniger: Die Begriffsperson hat eine allzu starke individuelle Konnotation, und ihre persönlichen Erlebnisse sind nicht unmittelbar in die abstrakten und allgemein wiederkehrenden Eigenschaften des typus umsetzbar.

Für die Begriffsperson gibt es noch einen gewissen Unterschied zwischen der Ebene der Ereignisse und der Ebene der Begriffe: ein Unterschied, der ein epistemologisches Hindernis zum Abstraktionsverfahren darstellen kann, der aber auch als Ansporn zur Erneuerung und Neugründung der Kategorien dienen kann. Eine ähnliche Kluft, die schon von Michel Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beobachtet wurde, durchquert in der Tiefe die ganze Geschichte der modernen Psychiatrie: eine Kluft zwischen der sozialen, institutionellen oder asylaren Wahrnehmung des Wahnsinns und seiner ärztlichen Wahrnehmung, die von der jahrhundertelangen Kontinuität einer nosographischen Tradition gestützt wird. In der Begriffsperson suchen diese zwei verschobenen und asymmetrischen Größen – und zwar Begriff und Ereignis, diskursive und nicht-diskursive Ebene – ein schwieriges Zusammenleben und eine problematische Konvergenz, wobei sie aber ihre wesentlichen Eigenschaften voneinander getrennt halten.

Wir können aber auch sagen, dass die Begriffsperson die Verkörperung der Vermittlung zwischen Lebensgeschichte und Krankengeschichte darstellt: die Gestalt einer Nähe und einer unvollendeten Synthese zwischen der Immanenzebene und der diskursiven Kohärenz der Begriffe.

Wenn die Vermittlung nicht stattfindet – wenn die Lebensgeschichte auf zerstörerische Weise in die begriffliche Ordnung der Disziplin einbricht und wenn sie leicht als Krankengeschichte formuliert werden kann – gibt es keinen Platz mehr für die Schaffung einer Begriffsperson. Ein Beispiel für alle: Auguste Comte, Vater des Positivismus und Esquirols Patient.

Comte wird von der Privatklinik Esquirols „nicht geheilt" entlassen: Er bestreitet in seinen Schriften und in seinen Briefen die Diagnose und somit die nosographische Kategorie, die zur Rechtfertigung seiner Einlieferung herangezogen wird (eine besondere Form von Monomanie: die „Megalomanie" oder „Größenwahn"). Und mehr: Er bestreitet auch die angewandte therapeutische Methode (und zwar den so genannten traitement moral). Er enthüllt dadurch ihren zwingenden Charakter und hebt die schwerwiegende Absenz des Alienisten hervor, der sein intellektuelles und affektives Gleichgewicht der willkürlichen Tätigkeit der untergeordneten und groben („subalternes et grossieres") Angestellten überlassen hatte. Er verlässt also das Asyl, obwohl er für „non guéri" erklärt wird und kümmert sich von allein – ohne jede ärztliche Hilfe – um seinen Erholungs- und Heilungsprozess.

Comte scheint nie unter den klinischen Fällen auf, die die Schriften Esquirols reichlich durchdringen, nicht einmal in kryptischer oder andeutender Form. Er wird also nicht zu einer Begriffsperson, und zwar gerade deshalb, weil seine Lebensgeschichte eine Niederlage der Theorie darstellt: einen dieser „échecs", von denen schon Pinel, Gründer der modernen Psychiatrie und Meister Esquirols, gesprochen hatte. Der échec – Gegenfigur einer epistemischen Struktur – wird aus der Ordnung des Diskurses ausgeschlossen, weil er Beobachtungsdaten übermittelt, die mit der inneren Kohärenz einer Theorie unvereinbar sind.

Im Unterschied zu den „wissenschaftlichen" Schriften – die zur Aufwertung der vereinbaren empirischen Bestätigungen neigen – zeigt die Debatte unter Psychiatern innerhalb einer mailing-list viel lieber die Niederlagen und die subjektiven Gestalten, die sie verkörpern, auf: und zwar zum Vorteil einer möglichen kritischen Umgestaltung der Disziplin. Aus dieser unförmlichen Ebene der Debatte treten neue Begriffspersonen hervor, oder wenn man will, negative Begriffspersonen, die imstande sind, die Kluft zwischen Kategorie und Ereignis, zwischen Immanenzebene und „Intensitätsdifferenzen" der Begriffe hervorzuheben.

Die Aufgabe einer historischen und kritischen Epistemologie besteht auch darin, das (verzerrte, verwischte und vernachlässigte) Profil der subjektiven Gestalten des Wissens zu rekonstruieren. Der Fall Anna O. ist in dieser Hinsicht musterhaft. Es handelt sich um die berühmte hysterische Patientin Breuers, die Freud für das Prototyp der Beziehung Analyst-histerische Patientin hielt: Als erste Heldin des neuen Wissens, wird Anna O. in den Studien zur Hysterie zur Begriffsperson der psychoanalytischen Lehre schlechthin. Die geduldige Arbeit der Historiker hat bewiesen, dass Anna O. (eigentlich Bertha Pappenheim) nicht von Breuer geheilt wurde: Auch sie hat wie Comte – nach der Unterbrechung der Therapie – von alleine ihr psychisches Gleichgewicht gefunden: und zwar durch eine tapfere Arbeit als Publizistin und als Verfechterin der Sozialhilfe und der Frauenrechte.

Bertha erscheint uns heute als eine negative Begriffsperson, die eine kritische Betrachtung der Grundlagen der Freud’schen Psychoanalyse und der reduktionistischen Verfahren, die diese kennzeichnen, anregen kann. Die historisch-epistemologische Instanz hat sich in diesem Falle als innerer Bestandteil eines Paradigmas gestaltet, der zu seiner Bestätigung, zu seiner Umstrukturierung oder zu seiner Entkräftung dient; eine Instanz, die in der psychiatrischen Debatte im Netz eine ausgezeichnete Gelegenheit findet: die Möglichkeit, in den entscheidenden und kritischen Ort einer jeden wissenschaftlichen Disziplin einzudringen, wo das Ereignis und der Begriff, die Privilegien der Empirie und die innere Gliederung der Theorie gegenübergestellt werden.

5. Offene Probleme

Die psychiatrische Debatte im Netz stellt leichter Lebensgeschichten zur Verfügung, die noch nicht in den Stricken der Theorie verfangen sind. Auf diese Weise wird den Paradigmen ein konkreter Boden geboten, wo sie ihre möglichen Zusammenhänge experimentieren können; und zwar mit der Aussicht einer tatsächlichen und wirksamen gegenseitigen Ergänzung, wie sie zu Zeit in vielen Bereichen zu finden ist.

Ein bedeutungsvolles Beispiel: die Diskussion, die sich in der mailing-list in Bezug auf die therapeutischen Ergebnisse und auf die Gegenwirkungen der Neuroleptika der neuen Generation, angefangen beim Clozapin, entwickelt hat. Man weiß noch viel zu wenig über die Wirkungsmechanismen dieser Arzneimittel: Ihre direkte Wirkung auf die dopaminergischen Wege wird für die antipsychotischen wie für die „ärztlich verursachten" (z.B. für das Clozapin die Agranulozytose) Gegenwirkungen verantwortlich gemacht. Hinsichtlich der antipsychotischen Wirkungen glaubt man, dass, während die Neuroleptika der ersten Generation (vom Chlorpromazin bis zum Stelazin) auf die positiven Symptome der Schizophrenie (Halluzinationen, Manien, usw.) wirken, die der neuen Generation auch auf die negativen Symptome (Depression, Rückzug in sich selbst, usw.) wirken.

Die Diskussion im Netz über all diese Fragen bietet die Gelegenheit, sich mit mindestens zwei Problemen auseinanderzusetzen.

1. Erstes Problem: Diese neuen Neuroleptika haben keine vorwiegend sedative Wirkung (wie die der älteren Neuroleptika, angefangen beim Clozapin), sondern sie verursachen – bei nicht wenigen Patienten – eine wahrhafte Wiedererweckung und einen erstaunlichen Antrieb zum Beziehungsleben. Wie sollen also die neuen psychotherapeutischen und rehabilitativen Behandlungen aussehen, um sich dieser neuen Situation anzupassen? Und vor allem: Wie soll folglich die Zusammenarbeit zwischen demjenigen, der das Arzneimittel verabreicht und demjenigen, der sich um den „wieder erwachten" Patienten auf psychologischer und relationaler Ebene kümmert? Oder, im Falle dass beide Funktionen innerhalb einer behandelnden Struktur von ein und demselben Therapeuten ausgeübt werden: Wie werden sie sich einigen und im Einklang sein? Man setzt sich hier mit einem Problem auseinander, das seinen Ursprung in konkreten Situationen und in der Notwendigkeit der klinischen Arbeit hat, das sich aber nicht innerhalb des Horizonts der Praktiken erschöpft. Es handelt sich nämlich darum, zwei verschiedene Sprachen (die pharmakologische und die psychotherapeutische), zwei Paradigmen, zwei Bildungsgänge, zwei unterschiedliche Auffassungen der Behandlung in Einklang zu bringen. In diesem Fall wird eine neue „Epistemologie des Anschlusses" und zwar ausgehend von konkreten Dringlichkeiten, von Experimentierungen, von Diskussionen – die, um so produktiver sind, je weniger sie in den Stricken einer steifen Theorie verfangen sind – arbeiten. Somit wird diese neue Epistemologie zu einem dynamischen inneren Bestandteil der Theorie werden, der ihre Entwicklung fördern kann. Dadurch wird diese Theorie den schwierigen Herausforderungen des nächsten Jahrtausends gewachsen sein.

2. Zweites Problem: Man kennt noch nicht die zeitlichen Variablen dieser neuen Therapien: Wird das behandelte Subjekt sein Leben lang ein „neuroleptisierter" Patient bleiben? Oder, wenn nicht: Unter welchen – physischen und psychologischen – Bedingungen wird der Patient eine eventuelle und stufenweise Unterbrechung der pharmakologischen Behandlung auf sich nehmen können? Und weiter: Wie wird es möglich sein, vom Patienten eine informierte Einwilligung in Bezug auf Dauer, Qualität, und Gegenwirkungen der angewandten Therapie zu erhalten? Und schließlich: In welchem Maße verlangen diese dramatisch bevorstehenden Herausforderungen eine spezifische innovative Planung der psychiatrischen Einrichtungen, die oft unangemessen sind und heutzutage eine produktions- und betriebsorientierte Philosophie verfolgen? Paradigmen, die sich gegenüberstehen. Schaffung oder Umstrukturierung der Begriffe. Ethische und institutionelle Probleme, die eng mit dem theoretischen Horizont und mit seinen Auswirkungen im Bereich der Klinik verbunden sind…

Eine komplexe Problematik – wie man leicht feststellen kann. Das Netz kann aber – gefördert durch seine schnellen Kommunikationswege und durch seine unbegrenzten Breitengrade – dazu einen konstruktiven Beitrag leisten. Das Netz kann also für die psychiatrische Klinik ein wirksamer Gegenaltar sein zur institutionellen Zähflüssigkeit, zur Steifheit der Paradigmen, zur bürokratischen Langwierigkeit und zu den bürokratischen Fesseln, die sehr oft die wissenschaftliche Kreativität hemmen und jeden therapeutischen und rehabilitativen Einsatz vereiteln.

(Übersetz von Chantal Marazia)

 

Fußnoten:

1. Der Name und der Forschungsbereich

Schon Platon unterschied die doxa (Glaube, Meinung) von der episteme, d.h. von der wahrhaften Erkenntnis und von der Wissenschaft. Nach dem laufenden philosophischen Wortschatz bedeutet heute Epistemologie, im weitesten Sinne, philosophische Untersuchung der Natur, der Mannigfaltigkeit, des Ursprungs, der Gegenstände und der Grenzen der Erkenntnis.

Der Bedeutungsbereich des Begriffs erfährt aber im Laufe der Zeit einige bestimmte Veränderungen und Abweichungen.

In der englischen Sprache erscheint das Wort epistemology erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deutet eben auf eine besondere philosophische Disziplin hin, die die Erkenntnis zum Gegenstand ihrer (theoretischen) Bearbeitungen und Untersuchungen wählt.

Mit dem Anbruch und der Verbreitung des Positivismus wird also die Epistemologie – d.h. ein bestimmter Bereich der philosophischen Untersuchung – als Schauplatz für die diachronische wie für die synchronische Betrachtung der Bedeutungen, der Grundlagen, des Wahrheitswertes, der Methoden und der Logik der Erkenntnis erkannt. Innerhalb der Epistemologie wird eine besondere Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis und den Naturwissenschaften geschenkt, die schon Comte an die Spitze des positiven Wissens gestellt hatte.

Ein neues Wort und ein selbständiger Forschungsbereich erscheinen also, wenn sich die Wissenschaft – durch Bücher, Zeitschriften und Einrichtungen, die sie fördern – als öffentliche Tätigkeit entwickelt, die genau von den professionellen Bereichen der Philosophie unterschieden wird. In diesem historischen Umstand wird der Wissenschaftler zum Fachmann. Er bringt seine Arbeit innerhalb der verschiedenen Disziplinen unter, die institutionell beglaubigt und von der gesamten wissenschaftlichen Welt gerechtfertigt werden: wenn er vorher als Naturphilosoph anerkannt wurde, wird er jetzt genauer als ein Astronom, ein Mathematiker, ein Physiker, ein Chemiker, ein Biologe, usw. bezeichnet.

In der angelsächsischen Welt und in der Tradition der analytischen Philosophie ist die Epistemologie sozusagen ihrer positivistischen Herkunft treu geblieben: Sie hat im Allgemeinen eine grundlegende Berufung und einen normativen und preskriptiven Charakter entwickelt, indem sie ihre Muster der wissenschaftlichen Rationalität bevorzugt in Anlehnung an die Mathematik und die Physik gebildet hat.

Der reduktionistische Szientismus – der unter seinen grundsätzlichen Postulaten die Einförmigkeit der Natur und die Einheitlichkeit der Wissenschaft voraussetzt – hat seine Wurzeln gerade in dieser Bevorzugung, die schon in der positiven Philosophie Auguste Comtes vorhanden war (auch wenn Comte einer jeden Form von Szientismus und der Gestalt des Wissenschaftlers als "Fachmann" widrig war).

In der analytischen Tradition haben die Epistemologie und die Wissenschaftsgeschichte besonders die so genannten "strengen" Wissenschaften hervorgehoben: Wissenschaften, die sich sowohl auf Grund ihrer jahrhundertelangen Überlieferung, ihres Niveaus an Formalisierung und Mathematisierung, als auch, wie gesagt, auf Grund ihres Vorrangs innerhalb der Hierarchie der Wissenschaften, der vom Positivismus hervorgebracht wurde.

Im Bereich der so genannten kontinentalen Epistemologie – besonders nach den Arbeiten von Gaston Bachelard und den Untersuchungen von Georges Canguilhem – wurden der positivistische Kanon der Wissenschaften und seine philosophischen Voraussetzungen endgültig aufgegeben. Zwei Schritte haben sich, in diese Richtung hin, als entscheidend erwiesen: die Einstellung von Seiten Bachelards der coupures épistémologiques und die damit verbundene Aufwertung der Diskontinuität, an der Canguilhem gearbeitet hat: Diskontinuität in Bezug auf die allgemeine Meinung, die Überzeugungen, die Vorurteile, die magischen Vorstellungen, die vorherrschenden wissenschaftlichen Überlieferungen, aber auch in Bezug auf den Vorgang, die Art und Weise, die Grundsätze und die logischen Kriterien, die die Wahrheitsbildung regeln; Diskontinuitäten, die die lineare und „progressive" Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens senkrecht unterbrechen, und die auch den inneren Zusammenhang eines einzelnen theoretischen Systems waagrecht brechen können. Zwei entscheidende Schritte, die, wie gesagt, eine radikale Umwertung der Methode und des Wirkungsfeldes der Epistemologie bewirken. Diese ist, wie Foucault in einem an Canguilhem gewidmeten Aufsatz geschrieben hat, nicht mehr „die allgemeine Theorie jeder Wissenschaft und jeder möglichen wissenschaftlichen Aussage; sie ist die Suche nach der inneren Normativität der verschiedenen wissenschaftlichen Tätigkeiten, so wie sie effektiv in die Tat umgesetzt worden sind".

Die Vielfalt der „regionalen Rationalismen" (Bachelard) zu erkennen, bedeutet, in der Tatsache, auf die preskriptive und grundlegende Berufung der epistemologischen Arbeit zu verzichten, und zwar durch die – diachronische und synchronische – Analyse der normativen Anlage jeder einzelnen diskursiven Praxis und der Schwelle, die sie überschreiten kann, wenn sie sich als gefestigte und geteilte wissenschaftliche Wahrheit bildet. Um eine wirkungsvolle Einteilung, die bei Michel Foucault beliebt war, zu übernehmen, können wir mindestens an vier Schwellen erinnern, die ein bestimmtes diskursives Gebilde kennzeichnen, wenn es sich als wissenschaftliche Theorie mit einer eigenen inneren Gesetzlichkeit gestaltet: eine Schwelle der Positivität, eine Schwelle der Epistemologisierung, eine Schwelle der Wissenschaftlichkeit, eine Schwelle der Formalisierung.

Die Mathematik ist, wie Foucault behauptet, die einzige diskursive Praxis, die die vier genannten Schwellen „in einem Sprung überschritten" hat. Dennoch, wenn man aber „die Errichtung des mathematischen Diskurses als Prototyp für das Entstehen und Werden aller anderen Wissenschaften nimmt, dann läuft man Gefahr, alle besonderen Formen der Historizität zu homogenisieren, all die verschiedenen Schwellen, die eine diskursive Praxis überschreiten kann, auf die Instanz eines einzigen Schnittes zurückzuführen und endlos zu allen Zeitpunkten die Problematik des Ursprungs zu reproduzieren: so fänden sich die Rechte der historisch-transzendentalen Analyse fortgesetzt. Modell ist die Mathematik ganz sicher für die meisten wissenschaftlichen Diskurse in ihrem Bemühen um formale Strenge und Beweisfähigkeit gewesen; aber für den Historiker, der das wirkliche Werden der Wissenschaften hinterfragt, ist sie ein schlechtes Beispiel – ein Beispiel, das man auf keinen Fall wird verallgemeinern können".

In dieser relativistischen und antipreskriptiven Perspektive ermöglicht uns die Analyse einer episteme, in ihrem Inneren die besonderen und verschiedenen Arten der Wahrheitsproduktion zu erkennen: diejenigen die Foucault als „Wahrheitsregimes" bezeichnete und zu deren Bildung auch einflussreiche, nicht diskursive (psychologische, ökonomische, soziale, institutionelle, metaphysische, religiöse, usw.) Faktoren beitragen.

Ein relativistischer Ansatz, eine Neigung, die entscheidende Rolle der historischen Untersuchung zu unterstreichen und letztendlich, last but not least, eine weniger begrenzte und also zu einer Aufwertung der extra-logischen und extra-diskursiven Faktoren bereite Auffassung der wissenschaftlichen Rationalität: diese neuen – auch in den post-positivistischen und post-empiristischen Epistemologien gut sichtbaren – Richtungen können eine wahrhafte Freizone darstellen, die die Grenzlinie, die bisher das analytische und das kontinentale Denken auf verschiedenen und unterschiedlich radikalen Weisen getrennt hat, immer fließender machen könnte.

Unsere Bemühung – gefördert, wie wir sehen werden, durch die Netzpraktiken – bewegt sich gerade innerhalb dieses Horizonts: eine Bemühung, die die Bildung einer analytischen und historischen Epistemologie anstrebt, die als innerer Bestandteil der wissenschaftlichen Theorie und Praxis, als Fähigkeit, diese zu verbinden und auch als kritisches Bewusstsein ihrer inneren Zugehörigkeit zu einem weiteren Beziehungskontext wirken soll.

Innerhalb dieses Standpunktes wird – natürlich nicht hier – eine tiefgründige theoretische Gegenüberstellung einiger Grundbegriffe der zeitgenössischen Epistemologie notwendig sein. Grundbegriffe, die sich außerhalb der positivistischen Hierarchie der Wissenschaften – und also außerhalb der zwei grundsätzlichen Postulate, die sie unterspannen (die Einförmigkeit der Natur und die Einheitlichkeit der Wissenschaft) bewegen: der regionale Rationalismus (Bachelard), die episteme (Foucault), das paradigma (Kuhn), das Forschungsprogramm (Lakatos), die Forschungstradition (Laudan), der Pluralismus (Feyerabend), das Begriffsschema (Quine), usw.

Eine rationale, verschiedentlich argumentierte Rekonstruktion der begrenzten und partiellen Ordnungen eines jeden Diskurses, der Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit hat, ist der gemeinsame Nenner dieser verschiedenen Philosophien der Wissenschaft. Schon vorher war nicht zufälligerweise von einem relativistischen Ansatz die Rede. Eine kurze nähere Bestimmung, die diesem Ausdruck wieder Stärke und theoretische Würde verleihen könnte, ist notwendig. Ein Ausdruck, der allzu oft verdreht und missverstanden worden ist. Ein Relativist sein bedeutet, die Vielfalt der Wahrheitsordnungen innerhalb der wissenschaftlichen Untersuchung – synchronisch und diachronisch – zu erkennen. Dies führt weder zu einem nihilistischen steuerlosen Treiben, das die verschiedenen ausführbaren Alternativen auf die gleiche Ebene stellt, noch zu einer radikalen skeptischen Lösung, die jede einzelne Alternative so behandelt, als wäre sie eine der vielen und möglichen Überzeugungen, ausschließlich durch ihre Überzeugungskraft, ihr Durchsetzungsvermögen innerhalb der wissenschaftlichen Welt und eines bestimmten sozialen und institutionellen Kontextes überhaupt gekennzeichnet.

Der relativistische Epistemologe, der immer aufmerksam auf die innere Gestaltung und auf den historischen Charakter der Theorien ist, erkennt und analysiert die besondere Art und Weise, wie die Wahrheit, innerhalb jeder einzelnen episteme, geschaffen, wiedergegeben, kontrolliert und garantiert wird. Er äußert sich nie – normativ – über den größeren oder minderen Wahrheitswert jeder einzelnen episteme: er beschränkt sich darauf, sie von innen aus zu verstehen und zu erklären. Er entdeckt sowohl ihre Beziehungen (Ausschließung, Antagonismus, Nähe, Fremdheit) mit anderen diskursiven Gebilden, als auch die (nicht unbedingt diskursiven) Zusammenhänge, die sie verständlicher machen. Jede hierarchische und preskriptive Bewertung – die bestimmen kann, welche die gültigste, „wissenschaftlichste", am leichtesten zu bestätigende und am schwierigsten zu falsifizierende Erkenntnismethode sein muss – wird also aufgegeben, und zwar zugunsten einer punktuellen und lokalisierten Analyse der Geschichte, der Struktur und der modi der Produktions der wissenschaftlichen Wahrheit.

Die These der Inkommensurabilität der Paradigmen – die sich schon mit Kuhn und Quine (um nur diese zu nennen) durchgesetzt hat und die heute im epistemologischen Bereich weitaus akzeptiert ist – wird zum grundsätzlichen Unterbau jedes relativistischen Ansatzes. In der These der Inkommensurabilität fällt die traditionelle Unterscheidung zwischen der Beobachtung – schon aufgefasst als neutral in Bezug auf die Theorie – und der Theorie selbst, die sich der Beobachtung und der empirischen Bestätigung anvertraut, um bestätigt (Carnap) oder falsifiziert (Popper) zu werden. Innerhalb dieser Perspektive glaubt man, dass empirische Tatsachen und Beobachtungsdaten immer von Theorie durchdrungen sind. Man glaubt, dass sie nie grobe, unmittelbare, naive Bestandteile sind. Die Beobachtung wäre also, vor allem in der Physik (Duhem), immer theorie-laden, d.h. mit Theorie beladen.

Ist es heute möglich, die These der Inkommensurabilität – und der Unbestimmtheit der Übersetzung (Quine) – anzunehmen, ohne deshalb jeder rationalen und historischen Rekonstruktion der theoretischen Entscheidungen die Legitimation zu entziehen? Ohne deshalb einem blinden Subjektivismus zu verfallen, der unfähig ist, die besonderen, jedem Paradigma eigenen Weisen, durch die ein Wahrheitsregime entsteht und sich behauptet, genau zu bestimmen? Ohne deshalb fortschrittsfeindlichen Anschauungen Raum zu schaffen?

Unsere Antwort kann ausgesprochen positiv sein, aber nur unter der Bedingung, dass sie eine umfassendere Auffassung der Rationalität mit sich bringt; eine Auffassung, die bereit ist, auch (nicht streng wissenschaftliche sondern) politische, institutionelle, ideologische und psychologische Variablen als epistemologisch bedeutend zu betrachten. Selbst Larry Laudan, der gegen jede skeptische und reaktionäre Verwicklungen der These der Inkommensurabilität war, bewegt sich innerhalb dieser neuen und umfangreicheren Auffassung der ratio.

„Für Laudan – erläutert richtigerweise Franca D’Agostini – sind der Traditionskonflikt, die empirischen und begrifflichen Probleme und die Ansprüche auf eine stufenweise Entwicklung nicht nur Voraussetzungen für das Werden der „Wissenschaft" im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie betreffen jede Art von Wissen und kultureller Praxis, wie die Politik oder die Theologie; und es ist gerade der Dialog mit den „außerwissenschaftlichen" Bereichen, wie der Religion, der den Weg der Wissenschaft in einigen ihrer Entwicklungsstufen bestimmt. In Laudans Hypothese wirke also eine umfangreichere Auffassung der Rationalität als die der pragmatistischen und hermeneutischen Hypothesen Lakatos’ und Kuhns".

Es ist aber nicht alles. Die Vielschichtigkeit der ratio zu begreifen, heißt auch das Wirkungsfeld der Epistemologie radikal neu zu bestimmen, indem man die politischen Wertigkeiten wirksam und vorsätzlich einflussreich macht. Es geht also darum, mit Rorty, den Vorrang der Demokratie über die Philosophie wieder herzustellen: und infolgedessen – wie kürzlich Giulio Giorello, nach und über Popper hinaus, mit Feyerabend gemacht hat – den Vorrang der „freien Gesellschaft" auch über die Wissenschaft.

Die wichtigste Aufgabe des Epistemologen bleibt die rationale Rekonstruktion der Umrisse eines Paradigmas – seine eigene Selbständigkeit und seine mögliche Entgegenstellung/Gegenüberstellung mit anderen Paradigmen. Dieser wird aber sowohl den Machtverhältnissen, die das Leben der Paradigmen kennzeichnen, als auch ihren Interaktionsmöglichkeiten immer mehr Aufmerksamkeit schenken. Er wird also bereit sein, die Kraft und die Wirksamkeit eines Paradigmas zu bewerten, auch ausgehend von der Überprüfung seiner Fähigkeit, die Entgegenstellung zu akzeptieren, oder der Auseinandersetzung freien Raum zu lassen, mit der ständigen Bedrohung, seine Thesen verfälscht zu sehen. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Epistemologe – Vorkämpfer, wie Giulio Giorello vorschlägt, einer ausgeglichenen Mischung von Toleranz und Fallibilismus – aktiv kämpfen, um, über die Barriere der Incommensurabilität hinaus, den Schauplatz der Entgegenstellungen und Gegenüberstellungen zu erkennen und zu verstehen, aber auch, letzten Endes, um diesem Schauplatz den größtmöglichen Umfang zu versichern.

„Mit anderen Worten, wenn wir noch von (wissenschaftlichen) Fortschritt reden wollen, müssen wir erkennen, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, den Fortschritt „aufzubauen" – was nicht unbedingt ein Übel ist, wenigstens für uns, die wir nach 1984 leben". Und so „entfaltet sich der Einfallsreichtum, der in der Übersetzungsarbeit verlangt wird, in der ‘Spannung der Begriffe’, die in der Tatsache die Kommunikation zwischen Forschern, die an verschiedenen und/oder gegenständigen Forschungsprogrammen arbeiten, ermöglichen. Es ist überhaupt nicht notwendig, „Bedeutungsgleichungen" zwischen jedem einzelnen Wort der Vertreter des ersten Programms und jedem Wort, das in den Formulierungen des gegenständigen Programms vorkommt, herzustellen […]. Wie wir gesehen haben, verlangt man nicht eine so enge Verbindung im Falle des Übergangs von der Newton’schen zu der relativistischen Mechanik und nicht einmal innerhalb desselben Übergangs, im Programm Einsteins, von der speziellen zur allgemeinen Theorie. Dennoch, wie Feyerabend ausdrücklich erkennt (1987), verhindert dies nicht die Gegenüberstellung der verschiedenen Begriffsschemata; im Gegenteil, dadurch dass die Vertreter beider Schemata die gleichen Wörter verwenden, wird die Umdeutung von ganzen ‘Sätzen’ die Kommunikation ermöglichen. Dies ergibt selbstverständlich, dass die Betreffenden eine Art „positiven Teufelskreises" zwischen Übersetzung-Verständnis und Toleranz erkennen, während Orthodoxie und Reinheit der Lehre Genossinnen der Stagnation sind".

 

 

2. Das Ansehen der Induktion und das Vorbild der Erfahrung

Die induktive Folgerung bleibt, trotz der bekannten Widerlegungen Poppers, ein Verfahren, das in verschiedenen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung eingehend angewandt wird: besonders in den life sciences und in den so genannten Humanwissenschaften, aber auch – es muss erwähnt werden – in den „strengen" Wissenschaften, wie Mathematik und Physik. In dieser Hinsicht, werden einige Verweise auf „Klassikern" des Induktivismus nützlich sein: von Carl Hempel bis zu Rudolf Carnap.

Die Wahrheit eines induktiven Schlusses, behauptete Carnap, ist nie gewiss. Wir können – ausgehend von einer bestimmten Anzahl von empirisch begründeten Prämissen – höchstens behaupten, dass der Schluss einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad hat: Die induktive Logik lehrt uns, den Wert dieser Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Eine gewisse, weitaus wiederkehrende Regelmäßigkeit liegt den Konzeptualisierungsprozessen zu Grunde und macht oft die Verfassung eines Gesetzes stichhaltig: dieses wird sich aber, auch wenn es empirisch gut begründet ist, immer nur auf eine begrenzte Anzahl von Beobachtungen gründen. Es wird also – in einer mehr oder weniger nahen Zukunft – immer möglich sein, ein Gegenbeispiel zu finden. Und ein einziges Gegenbeispiel genügt, um einen Falsifikationsprozess desselben Gesetzes einzuleiten. Deshalb schreibt Carnap, dass es nicht richtig ist, von einer Verifikation eines Gesetzes (also der „endgültigen Bestimmung ihrer Wahrheit") zu reden, sondern nur von einer Bestätigung. Der „Bestätigungsgrad" eines Gesetzes ist für Carnap seine „logische Wahrscheinlichkeit", die er auch als induktive Wahrscheinlichkeit bezeichnet. Die Bestätigung ist bedeutsam, wenn wir eine große Anzahl an empirischen Fällen beobachten können, an positiven Beispielen, die dem betreffenden Gesetz zu Grunde liegen. Eine der goldenen methodologischen Regeln, die die Überprüfungen, die ein Gesetz bestätigen (oder falsifizieren) können, wirksam machen, ist diejenige, die Carnap methodologische Regel der Heterogenität nennt. „Wenn wir die Regel der Wärmeausdehnung überprüfen wollen, müssen wir uns nicht auf die Kontrolle der festen Stoffe beschränken. Wenn wir das Gesetz überprüfen, nach dem alle Metalle gute Elektrizitätsleiter sind, dürfen wir unsere Kontrolle nicht auf Kupferproben beschränken, sondern wir müssen das Verhalten so viel wie möglicher Metalle unter verschiedenen Bedingungen, Temperaturen, usw., analysieren".

Im Übergang von der Physik zur Psychologie (oder Psychiatrie), wäre es angemessen, das Wort „Metalle" mit dem Wort „Individuen" (oder „Gruppen von Individuen") zu ersetzen, und den Ausdruck „unter verschiedenen Bedingungen, Temperaturen, usw." mit dem Ausdruck „soziale -, kulturelle –und Umweltbedingungen, usw.". Dieser mögliche Parallelismus würde selbstverständlich eine angemessene Argumentation verdienen.

Beschränken wir uns vorläufig auf die zwei Momente, die die wissenschaftliche Methode nach der induktivistischen Perspektive gründen: die Evidenz, die von den Beobachtungsdaten (oder Versuchsdaten) geliefert wird und die Hypothese (oder das Gesetz); es ist die Beziehung zwischen diesen zwei Momenten – zwischen diesen zwei Begriffen -, die den Bereich des Begriffes „logische oder induktive Wahrscheinlichkeit" bestimmt. Innerhalb eines logisch-induktiven Systems muss der Wahrscheinlichkeitsgrad – oder Bestätigungsgrad – einer Hypothese als Untersuchung der logischen Verhältnissen zwischen Hypothese und Evidenz verstanden werden.

Es ist also möglich, ein Gesetz oder eine Hypothese durch ein Gegenbeispiel zu falsifizieren, auch wenn es sich nie um eine endgültige Falsifikation handeln wird. Der Falsifikationsprozess einer wissenschaftlichen Theorie, die normalerweise durch mehrere Begriffe, Gesetze und Hypothesen bestimmt wird, ist bei weitem komplexer. Um die Entwertung einer Theorie zugunsten einer Gegentheorie festzusetzen, genügt ein experimentum crucis (ein entscheidender Versuch) nicht .

„Die experimenta crucis sind in der Wissenschaft unmöglich": sie können höchstens „zeigen, dass eine der zwei gegenständigen Theorien ernsthaft unangemessen ist", aber sie genügen nicht, um diese auf rigorose und endgültige Weise zu widerlegen.

Andererseits wird die Glaubwürdigkeit selbst einer bestimmten Hypothese, oder eines Gesetzes, nie endgültig absolut sein, und ihre Bestätigung oder ihre Falsifikation werden bestimmt nicht vom Ausgang eines einzelnen entscheidenden Versuchs abhängen.

Schon in der Logik der Forschung wertet hingegen Karl Popper, innerhalb seiner bekannten Theorie der deduktiven Methode der Kontrolle, die falsifizierende Rolle der entscheidenden Versuche auf.

Als kühner Gegner der induktiven Methode, sowohl in ihrer klassischen als auch in ihrer probabilistischen Fassung, stellt er fest, dass das Problem der Induktion folgendes ist: die Wahrheitsbestimmung allgemeiner Behauptungen, die auf die Erfahrung gründen. Für den Induktivisten wird die Wahrheit solcher allgemeinen Behauptungen auf die Wahrheit besonderer Behauptungen beschränkt; die Wahrheit dieser letzten ist ihrerseits aus Erfahrung bekannt, und dies bedeutet, dass die allgemeine Behauptung auf die induktive Folgerung gegründet ist.

Um also das Induktionsprinzip zu rechtfertigen, müssen wir zu induktiven Folgerungen greifen, und um letztere zu rechtfertigen, müssten wir ein Inuktionsprinzip höheren Grades annehmen, usw. Der Versuch, das Induktionsprinzip zu gründen, ist deshalb gescheitert: gerade weil es uns notwendigerweise zu einem unendlichen Regress führt.

Für Popper ist der grundlegende Irrtum dieses Ansatzes vom Verweis auf die Erfahrung bestimmt, und also von der inbegriffenen Verwechslung von einer Psychologie der Erkenntnis, die es mit empirischen Tatsachen zu tun hat, und einer Logik der Erkenntnis, die sich hingegen nur mit logischen Verhältnissen beschäftigt. Auch in seiner raffiniertesten probabilistischen Fassung ist die induktive Methode für Popper dem selben Irrtum verfallen: sie hat die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse mit der Wahrscheinlichkeit der Behauptungen verwechselt. Anders ausgedrückt: Der Wahrscheinlichkeitsgrad einer wissenschaftlichen Hypothese kann unmöglich durch die induktive Folgerung überprüft werden.

Um den Wert einer Hypothese zu beurteilen, muss man aber festlegen, auf welche Weise sie den verschiedenen Versuchen, sie zu falsifizieren, standgehalten hat: man muss also den Grad ihrer Bewährung bestimmen. In diesem Argumentationskontext wird der entscheidende Versuch als falsifizierender Versuch betrachtet, der eine Theorie endgültig widerlegt, auch wenn er nicht die Gültigkeit einer anderen Theorie beweisen kann.

Wir können uns vorläufig auf diese erste synthetische Annäherung an den Gesichtspunkt Poppers, mit besonderer Aufmerksamkeit auf seiner allgemeinen Anschauung der Wissenschaft, beschränken.

Unsere Wissenschaft ist nicht Erkenntnis, behauptet Popper. Deshalb kann sie nie verlangen, die Wahrheit erreicht zu haben, noch einen Vertreter der Wahrheit, wie zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit. Wir wissen nicht, wir können nur raten. Und unsere Versuche zu raten sind von einem nicht-wissenschaftlichen, metaphysischen Glauben an die Gesetze geleitet. Popper glaubt, dass der Fortschritt der Wissenschaft vom freien Wettstreit des Denkens und deshalb von der Freiheit abhängt. Die wissenschaftliche Theorie wird – innerhalb dieser argumentativen Anlage – zur Konjektur, zur gewagte Hypothese, zum freien Gedankenspiel. Der entscheidende Versuch dient zur endgültigen Widerlegung einer bestimmten Theorie und ermöglicht gleichzeitig die Entstehung einer neuen, „gut bekräftigten" Theorie.

Ausgehend von diesen Prämissen, kann sich die epistemologische Auslotung nur post festum, nach vollendeter Tat, entwickeln, ohne aber konstruktiv auf den Entwicklungsverlauf der analysierten wissenschaftlichen Theorie wirken zu können. Mit anderen Worten: Die Untersuchung der Wahrheitsansprüche einer Theorie erfolgt nicht durch die Bewertung ihrer historischen und empirischen Grundlagen, weil die Theorie selbst, wie gesagt, als gewagte Hypothese, Konjektur, als freies Gedankenspiel betrachtet wird, und die Berufung auf die Erfahrung kann sie nur dann falsifizieren, wenn sie schon ein Netzwerk von Begriffen, Hypothesen und Gesetzen aufgebaut hat.

Ohne hier eine gegliederte und durchdachte Widerlegung dieser Thesen entwickeln zu wollen, können wir uns auf eine erste kritische Bemerkung beschränken. Wissenschaften wie die Psychiatrie oder die klinische Medizin, die zu einem aktiven Eingriff auf den Menschen, auf sein Unbehagen und auf seine Pathologien bestimmt sind, können es sich nicht leisten, das Vorbild der Erfahrung zu ignorieren und somit ihre soziale Rechtfertigung und ihre theoretische Stichhaltigkeit auf eine nicht besser bestimmte „Gedankenfreiheit", oder auf einen ebenso unklaren Begriff von „metaphysischen Glauben" an das Gesetz zu gründen. Die Auseinandersetzung mit der Erfahrung stellt einerseits eine sehr enge epistemologische Bindung, die im induktivistischen Bereich weitgehend behandelt worden ist, dar, andererseits ist sie auch eine ethische Instanz, der man im Bereich einer klinischen Praxis kaum ausweichen kann.

Um den engen Zusammenhang zwischen ethischen Entscheidungen und epistemologischen Begriffen zu erfassen, muss man die Überzeugung aufgeben, dass die physisch-mathematischen Modelle einen grundlegenden und beispielhaften Wert haben, und infolgedessen dem disziplinären Bereich, der von den life sciences bis zu den Humanwissenschaften geht, besondere Aufmerksamkeit schenken: ein Bereich, in dem die ethisch-politische Ausrichtung einen direkteren – oder vielleicht nur sichtbareren – Einfall auf die Strukturen des Paradigmas darstellt.

Der gesamte logische Empirismus, der immer die „strengen" Wissenschaften bevorzugt hat, hat immer versucht, die „Fragen über die Tatsachen" von den „reinen Wertfragen" zu unterscheiden. Somit hat er "den nicht kognitiven Charakter der Wertbehauptungen" bekräftigt. Wie Abraham Kaplan, den Wittgenstein des Tractatus zitierend, unterstrichen hat, können im logischen Empirismus „keine ethischen Propositionen vorkommen", da „die Ethik" selbst definitionsgemäß „transzendental" ist. Kaplan beobachtet: „Auf Grund dieser Einstellung hat der logische Empirismus einigen ironischen Bemerkungen Anlass gegeben, und zwar für sein Bestehen auf die Bedeutung der Logik in allen Gebieten außer in den wichtigen Problemen des Lebens".

In den life sciences und den Humanwissenschaften und besonders in der klinischen Psychiatrie, kann sich die ethische Entscheidung als wesentlicher und konstitutiver Bestandteil der episteme erweisen, und jedes Interpretationsmuster, das diese zwei Dimensionen streng trennt, läuft die Gefahr, ein verdinglichtes Bild der wissenschaftlichen Arbeit zu liefern, innerhalb dessen das Wissen auf eine bloße Reihe von Aussagen und auf eine abstrakte Beziehung zwischen den Behauptungen (mit kognitivem Wert), den Begriffen, den Hypothesen und den Gesetzen reduziert wird.

In dieser Auffassung wird die Ethik als den Prozessen der Produktion der wissenschaftlichen Wahrheit fremd betrachtet: Sie bleibt in einem epistemologisch belanglosen Randgebiet verbannt, das – wie es die logischen Empiristen sagen würden – von Behauptungen beherrscht wird, die überhaupt keinen kognitiven Wert haben.

Die Berufung auf die Erfahrung – als bevorzugter Grund, auf dem das Theoriengebäude gebaut wird und nicht nur als bloßer Boden für die Bestätigung oder die Falsifikation einer Theorie – stellt, wie gesagt, eine ethische Instanz und gleichzeitig eine epistemologische Bindung dar. In dieser Perspektive sollte eine induktive probabilistische Logik kritisch neu gedacht werden, und zwar außerhalb des Imperialismus der mathematisch-physischen Muster und innerhalb einer wesentlichen Annahme der Vielfalt an Argumentationsstilen, die die zeitgenössische wissenschaftliche Landschaft kennzeichnet. Die Berufung auf die Erfahrung, die Verwendung von logischen Verfahren induktiver Art (selbstverständlich in ihrer besonderen Beziehung mit hypothetisch-deduktiven Verfahren), das Bewusstsein des relativen Wertes der Gesetze (eben probabilistische und nicht absolute Gesetze) sind das Tragwerk einer neuen post-empiristischen Anschauung der Wissenschaft. Eine Anschauung die bereit ist, die Komplexität und die nicht konventionelle, nicht willkürliche, sondern relative und deshalb zutiefst historische Bedeutung der verschiedenen wissenschaftlichen Theorien zuzugeben. Zwischen Erfahrung und Geschichte herrscht eine wesentliche Kontinuität, die in der Epistemologie noch nicht ausreichend thematisiert und erforscht worden ist.

In der Medizin, in der Psychiatrie und in der Psychologie eine Theorie zu bearbeiten bedeutet auch, sich für die Subjekte, auf die diese Theorie angewandt wird, verantwortlich zu machen: dieselben Subjekte, die die „empirische Grundlage" der Theorie selbst verkörpern. Die – distanzierte aber beteiligte – Beobachtung beeinflusst das Verhalten der beobachteten Subjekte, gerade wie in der Mikrophysik, mutatis mutandis, der Beobachtungsakt das beobachtete Phänomen verändert. Viele haben es bereits behauptet: Es ist sehr schwierig, die empirischen Tatsachen als grobe und vom Beobachter völlig unabhängige Daten zu sehen. Für Duhem und Quine ist die Beobachtung immer mit Theorie beladen: Sie würde also die Theorien, die Werte, di Mentalität, die Vorgangsweise des beobachtenden Subjekts einbegreifen. Wer ohne Vorbehalte diesen Schlussfolgerungen zustimmt, wird notwendigerweise die Wirksamkeit der induktiven Folgerung infrage stellen und somit die Niederlage einer konsequent empiristischen Perspektive unterstreichen.

Ich bin überzeugt, dass es heute, besonders in der Psychiatrie, notwendig ist, diesen epistemologischen Engpass zu überwinden und einen Zugang zur – noch nicht konzeptualisierten – „Beobachtungsstütze" der wissenschaftlichen Erkenntnis zu suchen: Bevor die empirischen Tatsachen zu logischen Verhältnissen werden; bevor das Begriffliche und das Empirische deckungsgleich werden; bevor also die Beobachtungsdaten in den Prozess der Objektbildung zusammenfließen, durch die zweifache Bewegung der „Klassifizierung" und der „Verdinglichung".

Man muss in der Klinik eine radikale Rückkehr zum Vorrang der unmittelbaren Erfahrung und dadurch eine Möglichkeit, die empirischen Tatsachen (in diesem Fall das menschliche Verhalten) durch ein aktives Zurückhalten des Urteils anregen: eine Form von epoché, im Sinne Husserls, oder, wenn man es vorzieht, durch eine Form geistiger Leere, die durch einen problematischen Dialog mit der taoistischen Weisheit und dem Zen-Buddhismus, der weit entfernt ist von jedem mimetischen Schematismus, erleichtert werden könnte.

Es handelt sich darum, in unserem beobachtenden Bewusstsein eine weiße Zone zu schaffen, die bereit ist, die Gegenwart des anderen aufzunehmen: seinen Körper, sein Gesicht, sein Wort, sein Verhalten, seine Frage nach Fürsorge, seine Art, in der Welt zu sein, sein Mit-sein, seine Art, das Mit-sein zu erleben. Wenn man die abendländischen institutionellen Rollen und die geistigen apriori in Klammern setzt – was für uns Abendländer eine schwierige und nicht abgerechnete konstruktive Tätigkeit ist, die das kritische Bewusstsein unserer Geschichtlichkeit voraussetzt – stellt man sich auf die Aufnahme des anderen ein: bereit, innerhalb des leeren Raumes des Bewusstseins, den Einbruch und die Verbreitung einer Vielfalt und einer Verschiedenartigkeit von empirischen Tatsachen (die nackten Tatsachen, von denen Epstein spricht) anzunehmen – auch diejenigen, die mit unseren Theorien und mit unserer Kultur völlig unvereinbar scheinen. Dies bedeutet, sich dem Patienten – oder im Allgemeinen dem anderen – gegenüberzustellen: „ohne Erinnerung und ohne Wünsche", wie Bion gesagt hat, in dem besonderen Zustand „der nackten Aufmerksamkeit ohne Gegenstand", die „es den Dingen ermöglicht, für sich zu sprechen".

Ein mühsamer Weg, der gewiss eine geduldige Selbstanalyse voraussetzt, eine Arbeit an sich selbst – die die Psychoanalyse zu kodifizieren und zu institutionalisieren versucht hat – und die Fähigkeit, die eigene Geschichte kritisch durchzusehen, um sich davon zu befreien: eine Art von epistemologischer Askese aber auch eine existentielle Entscheidung, die tief im Boden der Beziehungsethik wurzelt. Eine Seins– und gleichzeitig auch eine Denkweise: eine Technologie des Sichs, eine „philosophische Übung", deren Einsatz darin besteht zu wissen, „in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken".

Ich bin überzeugt, dass eine bestimmte Art, das Netz zu verwenden, eine solche epistemologische Askese ermöglicht, nämlich dadurch, dass sie zur Bildung eines neuen Blickes auf die Welt beiträgt: ein Blick, der – wenigstens der Neigung nach – frei von der Hypothek unserer Theorien und von der Bindung unserer Vor-urteile.

Diese Askese ist nur dann denkbar, wenn man die epistemologische Arbeit von ihren grundlegenden und preskriptiven Ansprüchen befreit. Die Krise und „die Zurückstellung der grundlegenden Epistemologie" (Rorty) – d.h. einer Auffassung, die dem Philosophen die Rolle des „Wärter der Rationalität" zuweist – ermöglicht die Bildung eines innovativen theoretischen Spielraumes, den Rorty als hermeneutisch bezeichnet, und den ich lieber epistemologisch nenne: ein Spielraum für eine neue – gleichzeitig kritische und historische – nicht grundlegende Epistemologie, die auf die verschiedenen Zusammenhänge und auf den möglichen Dialog verschiedener Paradigmen (die grundsätzlich nicht miteinander "kommensurabel" sind) aufmerksam ist.

Geben wir nun Rorty das Wort. Dabei möchte ich klarstellen, dass einige Aufgaben, die der amerikanische Philosoph der Hermeneutik zuschreibt, völlig mit meinem Versuch einer neuen psychiatrischen Epistemologie vereinbar sind: eine post-empiristische Epistemologie, die ich vorläufig Epistemologie des Anschlusses und des Dialogs bezeichnen werde.

Man darf die Rollen, die der Philosoph spielen kann, nicht durcheinander bringen. „Erstens nämlich kann er die Rolle des informierten Dilettanten übernehmen, des Polypragmatikers, des sokratischen Vermittlers unterschiedlicher Diskurse. In seinem Salon werden hermetische Denker sozusagen aus ihren in sich geschlossenen Praktiken hinauskomplimentiert. Meinungsverschiedenheiten der Disziplinen und Diskurse untereinander werden im Verlauf des Gesprächs einem Kompromiss zugeführt oder transzendiert. Zweitens kann er die Rolle des Kulturinspektors spielen, der die gemeinsame Grundlage aller kennt – des Platonischen Philosophenkönigs, der weiß, was alle anderen in Wirklichkeit tun, ob sie es nun wissen oder nicht, weil er den unhintergehbaren und unvordenklichen Kontext kennt (die Formen, die Sprache, das Bewusstsein), in dem es sich abspielt. Die erste Rolle entspricht der Hermeneutik, die zweite der Erkenntnistheorie. Die Hermeneutik betrachtet die Beziehungen der unterschiedlichen Diskurse zueinander als Beziehungen zwischen den möglichen Strängen eines Gesprächs, das seinerseits keines die Sprecher verbindenden disziplinären Systems bedarf, das jedoch, solange es währt, die Hoffnung auf Übereinstimmung nie aufgibt".

Meine Entscheidung, eine andere Terminologie zu verwenden, hängt von genauen theoretischen Gründen ab. „Zusammenhänge schaffen" – eine „hermeneutische" Tätigkeit, die Rorty als „aufbauend" bezeichnet – entspricht, besonders in der Psychiatrie, dem Versuch, innerhalb der klinischen Arbeit, therapeutisch produktive Verbindungen zu schaffen zwischen verschiedenen Paradigmen, zwischen unterschiedlichen Wissensformen, zum Vorteil des Patienten und seines Bedürfnisses, versorgt und geheilt zu werden. Um meinen Standpunkt zu erklären, möchte ich an die Definition von Medizin, die Georges Canguilhem formuliert hat, erinnern: eine Summe der angewandten Wissenschaften in ständiger Entwicklung. Diese Definition könnte – leicht verändert – auf die klinische Psychiatrie ausgedehnt werden. Somit könnte die Lage der Psychiatrie als Wissenschaft an der Grenze zwischen life sciences und Humanwissenschaften respektiert werden. Wir könnten also genauer von einer Summe der angewandten Wissenschaften und des Wissens in ständiger Entwicklung sprechen.

„Warum Summe?" schreibt Canguilhem. "Weil für uns der Begriff Summe nicht nur das Bild eines Additionsproduktes, sondern auch das einer Einheit der Operation, hervorruft. Man kann weder die Physik noch die Chemie als Summe bezeichnen. Man kann es aber mit der Medizin tun, und zwar dadurch, dass das Objekt, dessen interrogative Gegenwart aus methodologischen Gründen von dieser aufgehoben wird" – und zwar handelt es sich um den Kranken als Person und „Ziel der Fürsorge" – „trotzdem immer gegenwärtig ist, dadurch dass es die menschliche Form angenommen hat: ein Mensch, der ein Leben lebt, wovon er weder Autor noch Herr ist und der sich manchmal, um zu leben, einem Vermittler anvertrauen muss. Welche auch immer die Komplexität und Künstlichkeit dieser technischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Vermittlung der Medizin auch sei, welche auch immer die Dauer der Zurückstellung des Dialogs zwischen Arzt und Krankem auch sei, die Entscheidung der Wirksamkeit gründet immer auf diese Art des Lebens, dargestellt von der Individualität des Menschen. Im epistemologischen Unterbewusstsein des Arztes macht die zerbrechliche Einheit des menschlichen Lebewesens die wissenschaftlichen Anwendungen, die immer häufiger herangezogen werden, um ihm zu dienen, zu einer realen Summe".

Die „Entscheidung" der therapeutischen „Wirksamkeit" führt also zu einer „Einheit der Operation", die den Arzt dazu bringt, besondere angewandte Wissenschaften – d.h. besondere Paradigmen, aufgewertet und angewandt in ihrer praktischen und operativen Dimension – zu verbinden und zu summieren. Es ist bemerkenswert, dass im 19. Jahrhundert die Ärzte selbst für ihre Disziplin die Bezeichnung angewandte Wissenschaft beansprucht haben, als sie „in der Therapeutik physische und chemische, von den Physiologen eigen gemachte Determinismen, importiert haben".

Es wäre angebracht, für die Psychiatrie eine ähnliche Überlegung zu machen, ausgehend von der Untersuchung der Bezeichnungen einiger wichtiger und verfestigter Disziplinen: biologische Psychiatrie, Neuropsychiatrie, Ethnopsychiatrie, phänomenologische Psychiatrie, dynamische Psychiatrie, usw. Das Verhältnis zwischen der psychiatrischen Erkenntnis und seinen „Gegenständen" und gleichzeitig das regulative Ideal, einen Zusammenhang zwischen diesen Gegenständen zu schaffen, behaupten sich sozusagen durch innere Wege, d.h. durch besondere wissenschaftliche und klinische Methoden, so wie sie sich innerhalb jeder einzelnen Disziplin eingestellt und entwickelt haben.

Einen Zusammenhang schaffen ist, wie Rorty sagen würde, nur dann eine produktive und klinisch wirksame Tätigkeit, wenn sie sich innerhalb einer tatsächlich angewandten wissenschaftlichen Methode entwickelt: Dabei ist es nebensächlich, ob das Subjekt, das diesen Zusammenhang theoretisiert, der Wissenschaftler, der Epistemologe oder der Philosoph ist.

3. Der Psychonaut im Netz: ein anthropologischer Ansatz

Im Falle der Psychiatrie ist der günstige Humus für den Zusammenhang bestimmt nicht der „Salon" des Hermeneuten, sondern die Lebenswelt (im Sinne Husserls), die soziale und territoriale Welt, das Krankenhaus, die Dienstleistungen, die Gemeinschaft, das Laboratorium, das therapeutische setting und auch – wie ich hoffe – das Netz. Die epistemische Funktion ist, anders ausgedrückt, eine innere Instanz der wissenschaftlichen Tätigkeit, und nicht eine äußere „hermeneutische" Aktivität des Philosophen: d.h. des einfallsreichen Dilettanten, des geschickten Voyeurs, des erfahrenen Vermittlers, in der Konversationskunst bewandert und in der Ausübung der Toleranz geschult.

Diese epistemische Funktion ist also nicht mehr das Ergebnis der Folgerung der Kriterien der Wissenschaftlichkeit aus den apriorischen Kategorien des Verstandes, die im Raume verschiedener „strenger" Wissenschaften als herrschende Muster der wissenschaftlichen Erkenntnis wirken. Vielmehr tritt sie jeweils neu aus den Problemstellungen und aus der konkreten historischen Entwicklung der verschienen regionalen Ontologien.

Die Entwicklung einer inneren epistemischen Funktion kann im Falle der Psychiatrie auch durch ihre Verwurzelung im Netz erleichtert werden: durch telematische Zeitschriften, mailing-lists, chat-lines, Diskussionsforen, oder sogar durch Versuche von Psychotherapie oder von psychotherapeutischer Beratung im virtuellen Bereich.

Ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung als Erforscher des cyberspace und von meiner aktiven Teilnahme an der psychiatrischen Diskussion im Netz, wird es möglich sein, auf epistemologischer Ebene den Einsatz dieser Erfahrungen hervorzuheben, die im 21. Jahrhundert noch einen bahnbrechenden und radikal innovativen Charakter haben.

Für denjenigen, der im psychiatrischen Bereich tätig ist, kann der Umgang mit dem Netz eine Tätigkeit sein, die seinen Blickwinkel auf das Sozialwesen erweitert und somit auf das menschliche Verhalten, wie es sich außerhalb des therapeutischen settings und unabhängig vom institutionellen Umkreis der psychiatrischen Betreuung ausdrückt.

In einem anderen Beitrag habe ich bereits von der möglichen Erforschung durch das Internet des perversen Verhaltens gesprochen. Der Perverse weist bekanntlich normalerweise jede Psychotherapie zurück; falls er sie aber doch akzeptiert, erweist er sich – wie es eine inzwischen umfangreiche Literatur bezeugt – als eines Subjekte, die am unempflindlichsten gegen die Behandlung sind und die am stärksten zu oft unüberwindlichen Widerstandsstrategien neigen.

Der Netzsurfer-Psychiater – den ich kurz Psychonaut nennen werde – der gewisse chat-lines besucht (z.B. diejenigen, die durch das IRC-Programm zugänglich sind), begegnet leicht dem perversen Subjekt. Geschützt durch die Anonymität, die ihm IRC garantiert, wird er leicht darauf verzichten können, sich in seiner professionellen Gestalt vorzustellen. Er wird sich mit diesem Subjekt ohne den Schutz seiner Rolle unterhalten und somit leicht seine Bildungsgänge, seine Interpretationsmuster, seine geistigen apriori in Klammern setzen können. In der Begegnung im Netz mit dem Perversen, wird es ihm leichter fallen, epoché zu machen, wie schon gesagt: fair vide, das Niveau der nackten Aufmerksamkeit ohne Gegenstand erreichen, das, um es wieder mit Epstein zu sagen, „den Dingen ermöglicht, für sich zu sprechen". Die Verwendung des Netzes führt in diesem Fall einen zweifachen Vorteil mit sich:

1. Das perverse Subjekt ist in höherem Maße bereit, seine Erfahrungen und seine Phantasien mitzuteilen, ohne zu Widerstandsstrategien greifen und sich der „Behandlung" widersetzen zu müssen, und zwar dadurch, dass er das Gespräch im Netz nicht als therapeutische Erfahrung erlebt. Das perverse Benehmen wird somit ohne Verzögerung kundgegeben, mit einer Vielfalt und einem Reichtum an Details, die innerhalb des settings nicht leicht verfügbar sind.

2. Durch die epoché kann der Psychonaut gänzlich und ohne Schutzschranken den psychologischen Widerhall erleben, den die „perverse" Erzählung in ihm hervorruft: Er „nimmt ihn auf" – um ein Freudianisches Muster anzuwenden, könnten wir sagen, dass er imstande ist, seine eigenen latenten perversen Seiten – und ist also dazu geneigt, einen gewissen Grad an Empathie innerhalb des virtuellen Gesprächs zu erreichen, und zwar zum Vorteil einer größeren kommunikativen Freiheit. Der Austausch von Worten und Gefühlen zwischen dem Perversen und dem Psychonauten gehört selbstverständlich nicht einem Wahrheitsregime – z.B. dem der Psychiatrie – an, das von Prinzipien der Ausschließung geregelt, durch Prozeduren der Kontrolle organisiert und durch eine bestimmte institutionelle Basis gerechtfertigt wird. Die Tatsache, dass dieser Austausch von Worten und Gefühlen – wenn er empirisches Material wird, das konzeptualisiert werden muss – eventuell in die Schichten eines Wissens einfließen kann, hindert seine grundlegende extra-disziplinäre Kollokation nicht. Anders gesagt, drückt der Austausch von Worten und Gefühlen eine gewisse Wahrheit der Perversion aus, aber er ist noch nicht, wie Georges Canguilhem sagen würde, im Wahren: Es gehört nicht zum geregelten Raum einer Disziplin. „Es ist immer möglich – wie Foucault behauptet, indem er das Beispiel von Mendel heranzieht – im Raum eines wilden Außen die Wahrheit zu sagen; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven Polizei gehorcht", eine Polizei die innerhalb der Arten, eine wissenschaftliche Wahrheit zu erzeugen, immer gegenwärtig und wirkend ist. Aber gerade aus diesem wilden Außen kann und muss die klinische Psychiatrie schöpfen, um ihre empirische Prägnanz und ihre anthropologischen Breitengrade auf die Probe zu stellen.

Ich möchte diese nicht (oder vor-) therapeutische Haltung als anthropologisch-bildende Annäherungsweise an das Netz bezeichnen, die eine Bereicherung des Erfahrungsbereiches fördert und somit den Zugang zur Erfahrung (der anderen und der Welt), bevor diese durch im Voraus gebildeten Interpretationsmustern filtriert und konzeptualisiert wird. Auf diese Weise wird es leichter fallen, die anthropologische Basis der empirischen Bestätigung zu erweitern, die als Instrument der Kontrolle und als Ansporn zur Bildung von neuen Theorien dient: Theorien, die der Qualität und der Vielfalt der hervorgekommenen Beobachtungsdaten angemessenen sind.

Eine anthropologisch-bildende Annäherungsweise an das Netz ermöglicht uns, wie gesagt, den Zugang zum anderen und zur Welt, ohne unsere geistigen apriori und unsere Theorien heranzuziehen. Aber diese epoché – diese Schaffung einer geistigen Leere, die uns auf die Annahme und auf das Zuhören vorbereitet – ist das Ergebnis einer andauernden Arbeit an sich selbst. Sie ist ein Produkt, eine Konstruktion, und bestimmt keine „Urerfahrung", die unsere „ursprüngliche Komplizenschaft mit der Welt" kundgeben würde. Eine solche Philosophie der Urerfahrung würde uns vom Bewusstsein des spezifischen historischen Weges entfernen, der uns zur Aufhebung unseres kategoriellen Gerüstes und zur Niederlage des Ichs als urteilende Instanz geführt hat: Unsere eigene epistemologische Askese – Ergebnis eines selbstaufbauenden Prozesses und Voraussetzung für eine Umgestaltung der Psychiatrie – wäre somit auf die unmittelbaren Daten unseres Bewusstseins platt gedrückt; Daten, die ein „ursprüngliches Wiedererkennen" der Erfahrung mit sich führen und deshalb völlig selbständig und innerhalb der grundlegenden Prozesse einer wissenschaftlichen Disziplin unbrauchbar sind.

Mir scheint, dass die Epistemologie einer Wissenschaft die Analyse dieser vor-kategorialen Erfahrung, die irgendwie als verkannte Sinngrundlage ihres Wahrheitsregimes funktioniert, auf sich nehmen muss. Das Netz kann, in dieser Perspektive, eine ausgezeichnete Erkenntnisquelle werden.

Die extreme Heterogenität der Beobachtungsdaten, die dem Psychonauten zugänglich sind, wird nie genügend betont werden. Dieser muss aber imstande sein, auf seine epistemologische Hybris zu verzichten: Trotz der Vereinheitlichung, die mit dem universalen Charakter der informatischen Sprache und der Netztechnologien verbunden ist, sind die vom Internet übermittelten individuellen und sozialen Realitäten verschieden und unterschiedlich. Durch interaktive Internetsiten, die MUDs (wahrhafte Salons der virtuellen Simulation), das ICQ-Programm und die IRC-Kanäle – wo man leicht dialogisieren und sich Bilder, Fotos und Filme zusenden kann – hat der Netzsurfer Zugang zu virtuellen Individuen, Gruppen, Gemeinschaften, die vereinigt sind aus kulturellen, ludischen, psychologischen, ideologischen, sexuellen Gründen oder auf Grund von ethnischen, religiösen, politischen Interessen: Gays, Lesben, unkonventionelle Paare, Fetischisten, Exibitionisten, Sadomasochisten, Perverse aller Art, netzsüchtige Subjekte, aber auch Philosophen, Feministinnen, Anarchisten, Kommunisten, Heuchler, hackers, Cartoon-und Manga-Begeisterte, Melomane, oder unterdrückte Minderheiten, Indianer, die Aborigenes Australiens, die Chapas, usw.

Der Psychonaut hat – im Augenblickt, wo er ein Nomade des Netzes wird – zweifellos Zugang zu einer Vielfalt von sozialen Situationen und psychischen Gestaltungen, die ihn später dazu führen werden, die theoretischen Voraussetzungen und die kategoriellen Wissensschemata zu problematisieren. Der Nomadismus ist, innerhalb und außerhalb des Netzes, eine existentielle Entscheidung und ein Erkenntnisweg: Er kann dazu beitragen, die empirische Basis der Wissenschaften der Psyche zu erweitern, und zwar durch eine festere Verankerung im Alltag und in den individuellen und kollektiven Lebensstilen, die anfänglich außerhalb der Schutzgrenze der Disziplinen wahrnehmbar sind.

Die anthropologisch-bildende Herangehensweise an das Netz stellt, meiner Meinung nach, ein ausgezeichnetes Instrument und eine Möglichkeitsbedingung für eine wahrhafte fallibilistische Toleranz dar: eine kostbare Gelegenheit, Begriffe und Theorien fortwährend auf die Probe zu stellen.

4. Begriff und Ereignis

Die nosographischen Kategorien der Psychiatrie – so wie die der medicina mentis vor der Errichtung der Asyle – stammen direkt von der empirischen Beobachtung der Verhaltensweisen. Davon behalten einige in der Zeit eine relative Stabilität, die vom Beibehalten des Ausdrucks bezeugt wird; zum Beispiel die Manie und die Melancholie, die schon zu Beginn der abendländischen Medizin existierten, überleben noch heute, auch wenn mit verschiedenen Nuancen und Bedeutungen. Einige anderen, die heutzutage noch im Gebrauch sind – wie zum Beispiel die Neurose und die Psychose – stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verweisen selbstverständlich auf die Namen ihrer Väter. Andere wiederum – wie die Monomanie und die Lypemanie, die mit der Gestalt Esquirols und der Geburt der modernen psychiatrischen Klinik verbunden sind – erleben einen langsamen und irreversiblen Untergang im Laufe von einigen Jahrzehnten.

Trotz ihrer unumstrittenen Verankerung in den Beobachtungsdaten werden die nosographischen Kategorien – vor allem diejenigen, die in der Zeit eine relative Stabilität behalten – manchmal als Anzeiger einer wesentlichen Gestaltung der menschlichen Kondition gesehen, betrachtet in ihrem normalen und pathologischen Zustand. Es ist zum Beispiel bei der Melancholie der Fall: Sie wurde sowohl von der Platonisch-Aristotelischen Philosophie als auch von der klassischen griechischen Medizin untersucht und je nachdem als Temperament oder als Pathologie behandelt. Hubertus Tellenbach behauptet in dieser Hinsicht, dass die griechischen Autoren – obwohl sie „von einem Modus der Empirie, der absolut nicht mit unserem verwechselbar ist" – sich auf die „wesentlichen Formen der menschlichen Kondition" und im Besonderen auf die „wesentliche Form des melancholischen Daseins" konzentriert haben. Derselbe Ansatz wird wieder herangezogen, um den „zweitausendjährigen Widerhall" der Aristotelischen Theorie, die Genie und Melancholie verbindet, zu erläutern: „Man kann annehmen, dass Aristoteles unter dieser Idee viel mehr als eine philosophische Variation über ein ärztliches Thema verstand; es kann sogar sein, dass er zu einem wesentlichen Nachweis unter dem anthropologischen Standpunkt gekommen ist".

Die essentialistische Anschauung einiger psychiatrischer Begriffe – radikal zurückgewiesen von demjenigen, der das Andauern des Ausdrucks nur für eine sprachliche Unterlage einer fortdauernden diachronischen Veränderung der Inhalte hält – führt jedenfalls zur Überzeugung, die anthropologischen Konstanten der menschlichen Kondition gefunden zu haben und infolgedessen auch zum Anspruch auf die Vernachlässigung der empirischen Wurzel der nosographischen Strukturen, d.h. ihrer überprüfbaren kulturellen Relativität und ihrer einleuchtenden historischen Variabilität. Die Ethnopsychiatrie und die Ethnopsychoanalyse sind bekanntlich entstanden, um diesem essentialistischen und universalistischen Anspruch entgegenzuwirken.

Es handelt sich darum, die nosographischen Begriffe der Psychiatrie neu zu denken: und zwar durch die genaue Bestimmung ihrer Abhängigkeit vom Beobachtungsprozess, ihrer Zugehörigkeit zu einer sozio-kulturellen Situation, ihrer Beziehung zu den kontingenten Ereignissen, zu einem institutionellen Terrain und mit den Praktiken, die sie wirkend machen. Wenn man die Begriffe als Beziehungsvektor sieht, kann man die Bestandteile ihrer Immanenzebene (wie ich sie bezeichnen möchte) erkennen: eine vor-kategoriale und vor-psychiatrische Ebene, die die Gesamtheit dieser Bestandteile und die Möglichkeit der Begriffsbildung darstellt.

Eine psychiatrische Debatte im Netz – wie die der mailing-list der telematischen Zeitschrift „Polit" – kann den Zugang zur Immanenzebene der Begriffe erleichtern: ihre Diskontinuitäten, ihre ständigen Schwankungen, ihre unregelmäßige Physiognomie. Diese Ebene skandiert das Leben der nosographischen Begriffe: Obwohl sie sich – als vor-psychiatrischer Horizont – von ihnen unterscheidet, gehört sie trotzdem zu ihrer Funktionsgestaltung, zu ihrer eigenen Möglichkeit, zu existieren, die Therapie zu orientieren, Bedeutungen zu schaffen. Die Untersuchung eines Begriffes und seiner Beziehungen macht die nicht-konzeptuellen Faktoren und die nicht-diskursiven Ereignisse, die seine Erscheinung skandieren, sichtbar: die Beschaffenheit und die Adressaten der empirischen Beobachtung, der sozio-kulturelle Hintergrund, der Kontext der kontingenten Vorfälle, der operative Charakter der Praktiken, die institutionelle Einbeziehung.

Deleuze und Guattari schreiben: „Das Nicht-Philosophische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst". Um diese Aussage auf die Psychiatrie auszudehnen, würde ich also sagen: Das Nicht-Psychiatrische ist vielleicht tiefer im Zentrum der Psychiatrie als die Psychiatrie selbst. Mit einem wesentlichen Unterschied: Der psychiatrische Begriff führt – im Unterschied zum philosophischen – auf direktere und zwingende Art und Weise den Horizont der institutionellen Praktiken und Kontexte mit sich, auch wenn seine durchwegs theoretische Formulierung die Gefahr läuft, die Immanenzebene, die ihn einführt und wirkend macht, zu verschleiern. Die existenzialistische Auffassung des Begriffs, die schon von Tellenbach vorgeschlagen wurde, stellt einen der stärksten und gefährlichsten Faktoren, die diese Verschleierung fördern, dar.

Mit dem Ausdruck Ereignis, in seiner weitesten Bedeutung, meine ich jeden der möglichen pre-kategoriellen Faktoren, die die Immanenzebene der Begriffe bezeichnen. Man könnte genauer sagen, dass die Gesamtheit solcher Faktoren der Bereich der nicht-diskursiven Ereignisse ist, die den psychiatrischen Horizont kennzeichnen.

Der Vorteil einer telematischen Debatte unter Psychiatern – gegründet zum Beispiel auf die Briefe, die einer spezifischen mailing-list gesendet werden – zeichnet sich gerade durch die kommunikative Unmittelbarkeit aus. Diese ist weit entfernt von den Formen des wissenschaftlichen Beitrags und viel näher den Entwicklungsmöglichkeiten des unförmlichen Gesprächs. Dadurch ist sie der Sachlichkeit des Ereignisses: d.h. der Alltagserfahrung, den Praktiken und dem Erlebnis der Ärzte und der Patienten näher.

Oft wird das biographische und „pathologische" Profil eines Patienten auf problematische Weise vorgestellt, indem seine mögliche Verbundenheit mit einer bestimmten psychiatrischen Kategorie absichtlich offen (für eine Diskussion) gelassen wird. Dem selektiven und reduktionistischen Charakter der Krankengeschichte – so wie er oft in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen und in den schulmäßigen institutionellen Seminaren zutage tritt – folgt ein erzählender Stil, ein Stil der den existentiellen Details größere Aufmerksamkeit schenkt und weniger darauf achtet, ihre Zugehörigkeit zu einem nosographischen Schema zu bestimmen (oder vorzubestimmen). Dem Beobachtungsprozess wird also eine breite Autonomiespanne zugewiesen, unabhängig von der Theorie, die ihn einschließen könnte. Die Anwesenheit in der mailing-list von Experten, die verschiedenen Schulen und Disziplinen angehören, fördert diese weniger aprioristische Haltung, die zu einer Aufwertung der Vielschichtigkeit der empirischen Bestätigung neigt und die grundlegend offen ist für verschiedene theoretische Ausarbeitungen. Eine Lebensgeschichte wird, mit anderen Worten, in der Anfangsphase „erzählt", die ihrer Konzeptualisierung vorausgeht und diese ermöglicht: d.h. bevor sie auf eine Krankengeschichte reduziert wird.

Die zentrale Rolle dieser erzählenden Funktion, die von den Netzpraktiken hervorgehoben wird, ermöglicht es dem Psychiater, die Umwandlung des kranken Subjektes in Krankheit (als natürliche und abstrakte Einheit) infrage zu stellen, und zwar zu Ehren des Prinzips der verschiedenen DSM, die in der Zeit aufeinander gefolgt sind. Man erzählt nicht eine Depression, sondern die Lebensgeschichte eines Depressiven. Dabei wird man – vorausgesetzt, dass man es für notwendig hält – nur in einer zweiten Phase bestimmen, welcher depressiven Typologie seine Symptome und seine Art, in der Welt zu sein, angehören. Es kann auch vorkommen, dass die erzählte Geschichte nicht gänzlich in einer Typologie (oder in einer einzigen Typologie), die vom psychiatrischen Wissen schon genau umrissen wurde, einschreibbar ist. In diesem Fall wird es notwendig sein, die bereits existierenden nosographischen Instrumente neu zu formulieren oder zu verändern – oder ex novo zu schaffen -, um sie geeigneter für die Konzeptualisierung der neuen Beobachtungsdaten zu machen. Auf dieser Ebene können wir Quine bestimmt nicht folgen, wenn er uns – für die Naturwissenschaften – die enge Interdependenz zwischen den Klassifizierungs -und den Verdinglichungsprozessen der beobachteten Phänomene zeigt, wenn sie zu Objekten „gemacht" werden. Es handelt sich wennschon darum, die Verdinglichung der Klassifizierung rückgängig zu machen. Somit könnte sie zu einem flexiblen Instrument, einer Funktion der historischen Zeit und des kulturellen Raumes, werden: zu ständigen Modulationen fähig, die den existentiellen Eigentümlichkeiten der begegneten und erzählten Subjekte angemessen sind.

In den Diskussionen zwischen „Experten" der Geisteskrankheit, die sich in der mailing-list entwickeln, habe ich oft ein besonders interessantes Phänomen beobachtet: Der nosographische Begriff wird von der so genannten Begriffsperson (Deleuze und Guattari) ersetzt, die in unserem Falle etwas mehr und etwas weniger als der abstrakte Typus ist, der seine Eigenschaft von den pathologischen Einheiten des psychiatrischen Wissens erhält (vgl. den von Tellenbach thematisierten typus melancholicus). Etwas mehr: Obwohl die Begriffsperson irgendwie auf ein bereits existierendes System von Kategorien verweist, setzt sie sich vor allem auf Grund der zentralen Rolle ihrer Charakterzüge und auf Grund der unerschütterlichen Eigentümlichkeit ihrer Kontexte und ihrer Lebensgeschichte durch. Etwas weniger: Die Begriffsperson hat eine allzu starke individuelle Konnotation, und ihre persönlichen Erlebnisse sind nicht unmittelbar in die abstrakten und allgemein wiederkehrenden Eigenschaften des typus umsetzbar.

Für die Begriffsperson gibt es noch einen gewissen Unterschied zwischen der Ebene der Ereignisse und der Ebene der Begriffe: ein Unterschied, der ein epistemologisches Hindernis zum Abstraktionsverfahren darstellen kann, der aber auch als Ansporn zur Erneuerung und Neugründung der Kategorien dienen kann. Eine ähnliche Kluft, die schon von Michel Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beobachtet wurde, durchquert in der Tiefe die ganze Geschichte der modernen Psychiatrie: eine Kluft zwischen der sozialen, institutionellen oder asylaren Wahrnehmung des Wahnsinns und seiner ärztlichen Wahrnehmung, die von der jahrhundertelangen Kontinuität einer nosographischen Tradition gestützt wird. In der Begriffsperson suchen diese zwei verschobenen und asymmetrischen Größen – und zwar Begriff und Ereignis, diskursive und nicht-diskursive Ebene – ein schwieriges Zusammenleben und eine problematische Konvergenz, wobei sie aber ihre wesentlichen Eigenschaften voneinander getrennt halten.

Wir können aber auch sagen, dass die Begriffsperson die Verkörperung der Vermittlung zwischen Lebensgeschichte und Krankengeschichte darstellt: die Gestalt einer Nähe und einer unvollendeten Synthese zwischen der Immanenzebene und der diskursiven Kohärenz der Begriffe.

Wenn die Vermittlung nicht stattfindet – wenn die Lebensgeschichte auf zerstörerische Weise in die begriffliche Ordnung der Disziplin einbricht und wenn sie leicht als Krankengeschichte formuliert werden kann – gibt es keinen Platz mehr für die Schaffung einer Begriffsperson. Ein Beispiel für alle: Auguste Comte, Vater des Positivismus und Esquirols Patient.

Comte wird von der Privatklinik Esquirols „nicht geheilt" entlassen: Er bestreitet in seinen Schriften und in seinen Briefen die Diagnose und somit die nosographische Kategorie, die zur Rechtfertigung seiner Einlieferung herangezogen wird (eine besondere Form von Monomanie: die „Megalomanie" oder „Größenwahn"). Und mehr: Er bestreitet auch die angewandte therapeutische Methode (und zwar den so genannten traitement moral). Er enthüllt dadurch ihren zwingenden Charakter und hebt die schwerwiegende Absenz des Alienisten hervor, der sein intellektuelles und affektives Gleichgewicht der willkürlichen Tätigkeit der untergeordneten und groben („subalternes et grossieres") Angestellten überlassen hatte. Er verlässt also das Asyl, obwohl er für „non guéri" erklärt wird und kümmert sich von allein – ohne jede ärztliche Hilfe – um seinen Erholungs- und Heilungsprozess.

Comte scheint nie unter den klinischen Fällen auf, die die Schriften Esquirols reichlich durchdringen, nicht einmal in kryptischer oder andeutender Form. Er wird also nicht zu einer Begriffsperson, und zwar gerade deshalb, weil seine Lebensgeschichte eine Niederlage der Theorie darstellt: einen dieser „échecs", von denen schon Pinel, Gründer der modernen Psychiatrie und Meister Esquirols, gesprochen hatte. Der échec – Gegenfigur einer epistemischen Struktur – wird aus der Ordnung des Diskurses ausgeschlossen, weil er Beobachtungsdaten übermittelt, die mit der inneren Kohärenz einer Theorie unvereinbar sind.

Im Unterschied zu den „wissenschaftlichen" Schriften – die zur Aufwertung der vereinbaren empirischen Bestätigungen neigen – zeigt die Debatte unter Psychiatern innerhalb einer mailing-list viel lieber die Niederlagen und die subjektiven Gestalten, die sie verkörpern, auf: und zwar zum Vorteil einer möglichen kritischen Umgestaltung der Disziplin. Aus dieser unförmlichen Ebene der Debatte treten neue Begriffspersonen hervor, oder wenn man will, negative Begriffspersonen, die imstande sind, die Kluft zwischen Kategorie und Ereignis, zwischen Immanenzebene und „Intensitätsdifferenzen" der Begriffe hervorzuheben.

Die Aufgabe einer historischen und kritischen Epistemologie besteht auch darin, das (verzerrte, verwischte und vernachlässigte) Profil der subjektiven Gestalten des Wissens zu rekonstruieren. Der Fall Anna O. ist in dieser Hinsicht musterhaft. Es handelt sich um die berühmte hysterische Patientin Breuers, die Freud für das Prototyp der Beziehung Analyst-histerische Patientin hielt: Als erste Heldin des neuen Wissens, wird Anna O. in den Studien zur Hysterie zur Begriffsperson der psychoanalytischen Lehre schlechthin. Die geduldige Arbeit der Historiker hat bewiesen, dass Anna O. (eigentlich Bertha Pappenheim) nicht von Breuer geheilt wurde: Auch sie hat wie Comte – nach der Unterbrechung der Therapie – von alleine ihr psychisches Gleichgewicht gefunden: und zwar durch eine tapfere Arbeit als Publizistin und als Verfechterin der Sozialhilfe und der Frauenrechte.

Bertha erscheint uns heute als eine negative Begriffsperson, die eine kritische Betrachtung der Grundlagen der Freud’schen Psychoanalyse und der reduktionistischen Verfahren, die diese kennzeichnen, anregen kann. Die historisch-epistemologische Instanz hat sich in diesem Falle als innerer Bestandteil eines Paradigmas gestaltet, der zu seiner Bestätigung, zu seiner Umstrukturierung oder zu seiner Entkräftung dient; eine Instanz, die in der psychiatrischen Debatte im Netz eine ausgezeichnete Gelegenheit findet: die Möglichkeit, in den entscheidenden und kritischen Ort einer jeden wissenschaftlichen Disziplin einzudringen, wo das Ereignis und der Begriff, die Privilegien der Empirie und die innere Gliederung der Theorie gegenübergestellt werden.

5. Offene Probleme

Die psychiatrische Debatte im Netz stellt leichter Lebensgeschichten zur Verfügung, die noch nicht in den Stricken der Theorie verfangen sind. Auf diese Weise wird den Paradigmen ein konkreter Boden geboten, wo sie ihre möglichen Zusammenhänge experimentieren können; und zwar mit der Aussicht einer tatsächlichen und wirksamen gegenseitigen Ergänzung, wie sie zu Zeit in vielen Bereichen zu finden ist.

Ein bedeutungsvolles Beispiel: die Diskussion, die sich in der mailing-list in Bezug auf die therapeutischen Ergebnisse und auf die Gegenwirkungen der Neuroleptika der neuen Generation, angefangen beim Clozapin, entwickelt hat. Man weiß noch viel zu wenig über die Wirkungsmechanismen dieser Arzneimittel: Ihre direkte Wirkung auf die dopaminergischen Wege wird für die antipsychotischen wie für die „ärztlich verursachten" (z.B. für das Clozapin die Agranulozytose) Gegenwirkungen verantwortlich gemacht. Hinsichtlich der antipsychotischen Wirkungen glaubt man, dass, während die Neuroleptika der ersten Generation (vom Chlorpromazin bis zum Stelazin) auf die positiven Symptome der Schizophrenie (Halluzinationen, Manien, usw.) wirken, die der neuen Generation auch auf die negativen Symptome (Depression, Rückzug in sich selbst, usw.) wirken.

Die Diskussion im Netz über all diese Fragen bietet die Gelegenheit, sich mit mindestens zwei Problemen auseinanderzusetzen.

1. Erstes Problem: Diese neuen Neuroleptika haben keine vorwiegend sedative Wirkung (wie die der älteren Neuroleptika, angefangen beim Clozapin), sondern sie verursachen – bei nicht wenigen Patienten – eine wahrhafte Wiedererweckung und einen erstaunlichen Antrieb zum Beziehungsleben. Wie sollen also die neuen psychotherapeutischen und rehabilitativen Behandlungen aussehen, um sich dieser neuen Situation anzupassen? Und vor allem: Wie soll folglich die Zusammenarbeit zwischen demjenigen, der das Arzneimittel verabreicht und demjenigen, der sich um den „wieder erwachten" Patienten auf psychologischer und relationaler Ebene kümmert? Oder, im Falle dass beide Funktionen innerhalb einer behandelnden Struktur von ein und demselben Therapeuten ausgeübt werden: Wie werden sie sich einigen und im Einklang sein? Man setzt sich hier mit einem Problem auseinander, das seinen Ursprung in konkreten Situationen und in der Notwendigkeit der klinischen Arbeit hat, das sich aber nicht innerhalb des Horizonts der Praktiken erschöpft. Es handelt sich nämlich darum, zwei verschiedene Sprachen (die pharmakologische und die psychotherapeutische), zwei Paradigmen, zwei Bildungsgänge, zwei unterschiedliche Auffassungen der Behandlung in Einklang zu bringen. In diesem Fall wird eine neue „Epistemologie des Anschlusses" und zwar ausgehend von konkreten Dringlichkeiten, von Experimentierungen, von Diskussionen – die, um so produktiver sind, je weniger sie in den Stricken einer steifen Theorie verfangen sind – arbeiten. Somit wird diese neue Epistemologie zu einem dynamischen inneren Bestandteil der Theorie werden, der ihre Entwicklung fördern kann. Dadurch wird diese Theorie den schwierigen Herausforderungen des nächsten Jahrtausends gewachsen sein.

2. Zweites Problem: Man kennt noch nicht die zeitlichen Variablen dieser neuen Therapien: Wird das behandelte Subjekt sein Leben lang ein „neuroleptisierter" Patient bleiben? Oder, wenn nicht: Unter welchen – physischen und psychologischen – Bedingungen wird der Patient eine eventuelle und stufenweise Unterbrechung der pharmakologischen Behandlung auf sich nehmen können? Und weiter: Wie wird es möglich sein, vom Patienten eine informierte Einwilligung in Bezug auf Dauer, Qualität, und Gegenwirkungen der angewandten Therapie zu erhalten? Und schließlich: In welchem Maße verlangen diese dramatisch bevorstehenden Herausforderungen eine spezifische innovative Planung der psychiatrischen Einrichtungen, die oft unangemessen sind und heutzutage eine produktions- und betriebsorientierte Philosophie verfolgen? Paradigmen, die sich gegenüberstehen. Schaffung oder Umstrukturierung der Begriffe. Ethische und institutionelle Probleme, die eng mit dem theoretischen Horizont und mit seinen Auswirkungen im Bereich der Klinik verbunden sind…

Eine komplexe Problematik – wie man leicht feststellen kann. Das Netz kann aber – gefördert durch seine schnellen Kommunikationswege und durch seine unbegrenzten Breitengrade – dazu einen konstruktiven Beitrag leisten. Das Netz kann also für die psychiatrische Klinik ein wirksamer Gegenaltar sein zur institutionellen Zähflüssigkeit, zur Steifheit der Paradigmen, zur bürokratischen Langwierigkeit und zu den bürokratischen Fesseln, die sehr oft die wissenschaftliche Kreativität hemmen und jeden therapeutischen und rehabilitativen Einsatz vereiteln.

(Übersetz von Chantal Marazia)

 

Fußnoten:

Vgl. das Stichwort Epistemologie in W. F. BYNUM, E. J. BROWNE, R. PORTER (Hrsg.), Dizionario di storia della scienza, Theoria, Roma, 1987, SS.170-171.

Vgl. I. HACKING, Die Bedeutung der Sprache für die Philosophie, Hain, Königstein/Ts, 1984.

In Bezug auf den europäischen Positivismus nach Comte und auf Comtes Polemik gegen die „Spezialismen" vgl. W. M SIMON, European Positivism in the Nineteenth Century. An Essay in Intellectual History, Cornell University Press, Ithaca NY, 1963. Um den Bereich der Epistemologie festzulegen, möchte ich daran erinnern, dass es in der angelsächsischen Universitätswelt noch heute zwei Bedeutungen dieses Ausdruckes gibt: eine engere, die die wissenschaftliche Erkenntnis (und besonders die Naturwissenschaften) als Forschungsobjekt ansieht und eine weitere, streng philosophische, die als Synonym für Erkenntnistheorie gilt. Auch innerhalb dieser zweiten Bedeutung gibt es aber einige, die die Epistemologie allgemein als Theorie der Erkenntnis und der Rechtfertigung (zum Beispiel Robert Audi) bezeichnen und andere — wie Nicolas Everitt und Alec Fischer -, die die logisch-mathematische Erkenntnis vorziehen, obwohl sie sich innerhalb der disziplinären Bereiche der Philosophie bewegen. Vgl. R. AUDI, Epistemology, Routledge, London — New York, 1998, und N. EVERITT – A. FISHER, Modern Epistemology, New York, 1995.

Für die Unterscheidung zwischendem analytische und dem kontinentalen Denken, mit einem besonderen Hinweis auf den philosophisch-epistemologischen Bereich, vgl. insbesondere die wichtige und belegte kritische Übersicht von F. D’AGOSTINI, Analitici e continentali. Guida alla filosofia degli ultimi trent’anni, Raffaello Cortina, Milano, 1997 (für die hier behandelten Themen besonders SS. 447-506). Eine einzige genauere Angabe: ein Gelehrter wie Ian Hacking, der versucht hat, eine Brücke zwischen dem analytischen und dem kontinentalen Denken zu schlagen, ist, meiner Meinung nach, hier allzu sehr vernachlässigt worden. Für einige Forschungsversuche, die innerhalb der von Bachelard gegründeten epistemologischen Tradition kritisch gereift sind, erlaube ich mir den Verweis auf M. GALZIGNA, Conoscenza e dominio. Le scienze del vivente tra filosofia e storia, Bertani, Verona, 1984; und in Bezug auf die mögliche Beziehung zwischen Genealogie und Epistemologie, auf M. GALZIGNA, Conoscenza e passione. Proposte di ricerca genealogica, in P. A. ROVATTI (Hrsg.), Effetto Foucault, Feltrinelli, Milano, 1986. Vgl. auch meine Beiträge in G. GEMBILLO — M. GALZIGNA, Scienziati e nuove immagini del mondo, Marzorati, Milano, 1994.

M. FOUCAULT, La vie: l'expérience et la science, in: Revue métaphysique et de morale: Canguilhem, Nr. 1, Januar – März 1985. Dt. Übers. v. Walter Seitter: Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft, in: Marcelo Marques (Hrsg.), Der Tod des Menschen im Denken des Lebens, Edition Diskord, Tübingen, 1988, 52-72. Die Unterstreichungen im Text sind von mir.

Für eine eingehende Beschreibung der vier Schwellen und der verschiedenen Typen von Wissenschaftsgeschichte, die sie beschreiben, vgl. M. FOUCAULT, Archäologie des Wissens. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt/ M, 1981 (SS. 265-274).

M. FOUCAULT, a.a.O, S. 269.

Für eine wirksame „anti-obskurantistische" Stellungnahme vgl. L. LAUDAN, Science and Relativism, University of Chicago Press, Chicago, 1990, S. X. Für eine analytische und argumentierte — und auf viele historische Beobachtungen gestützte – Wiederaufnahme der These der Inkommensurabilität, die für vereinbar gehalten wird mit den Dynamiken der Entgegenstellung/Gegenüberstellung/Rivalität zwischen Gegenprogrammen vgl. D. GILLIES — G. GIORELLO, La filosofia della scienza nel XX secolo, Laterza, Roma-Bari, 1995 (vgl. besonders G. Giorello, SS. 337 — 391).

F. D’AGOSTINI, a.a.O, SS. 463-464.

Ich zitiere G. Giorello aus D. GILLIES — G. GIORELLO, a.a.O, S. 369. Über Fallibilismus und Toleranz siehe das letzte Kapitel (G. Giorello, SS. 371-391). Der Aufsatz/Pamphlet von A. SOKAL — J. BRICMONT, Impostures intellectuelles, Editions Odile Jacob, Paris, 1997 (vgl. vor allem SS. 51 — 99) vertretet einen Standpunkt, der in der traditionellen objektivistischen Auffassung der wissenschaftlichen Wahrheit verankert ist und der deshalb unfähig ist, die heuristische Kraft einer weiteren (weniger „reinen") Anschauung der ratio zu begreifen.

In Bezug darauf verweise ich auf meine Untersuchungen, die schon in der Fußnote 4 (1984 und 1994) zitiert habe. Für das Verhältnis zwischen den mathematischen Anschauungen Poincarés und dem Problem der Induktion vgl. U. BOTTAZZINI, Poincaré, il cervello delle scienze razionali, in „I grandi della scienza", Beilage der Zeitschrift „Le Scienze", Februar 1999; über Mathematik und Induktion in Peano vgl. auch E. GIUSTI, Ipotesi sulla natura degli oggetti matematici, Bollati Boringhieri, Torino, 1999, SS. 48 — 49, und L. GALZIGNA, Matematica e biologia. I numeri della vita, UTET Libreria, Torino, 1998, SS. 41 — 45 und passim. Eine anti-induktivistische Stellungnahme — die die logische Unvereinbarkeit zwischen dem probabilistischen Ansatz und den induktivistischen Vorgängen unterstreichen will — in einem Brief von K. POPPER – D. MILLER (A proof of the impossibility of inductive probability) an die Zeitschrift "Nature", 302, 1983, SS. 687-688. Immer in "Nature" (310, 1984 und 315, 1985) sind Antworten und Widerlegungen — vor allem logischer Natur — der Einstellung Poppers erschienen.

C.G. HEMPEL, Philosophie der Naturwissenschaften, Dt. Taschenbuchverlag, München, 1974. Vgl. auch, immer in R. CARNAP, Logical Foundations of Probability, University of Chicago Press, Cicago, 1962.

R. CARNAP, Philosophical Foundations of Physiks, Basic Books, New York, 1966. Für eine auf den letzen Stand gebrachte Diskussion des „induktivistischen Streites" und für eine Aufwertung der induktiven Folgerung auch in Bezug auf die Debatte über die Entwicklung der artifiziellen Intelligenz vgl. D. GILLIES, Artificial Intelligence and Scientific Method, Oxford University Press, New York, 1999, SS. 1-16, 56-71 und 98-112.

Für die Problematik der entscheidenden Versuche, die sich ausgehend von der kritischen Untersuchung einiger grundlegender Thesen der Molekularbiologie entwickelt hat, verweise ich auf M.GALZIGNA, Conoscenza e dominio (SS. 38 — 51).

C. G. HEMPEL, a.a.O.

K. POPPER, Logik der Forschung, 10. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen, 2002, S. 5.

K. POPPER, a.a.O.

Für die genauen Zitate vgl. M.GALZIGNA, a.a.O, S. 47.

R. CARNAP, Intellectual Autobiography, in P. A. SCHILPP, The Philosophy of Rudolf Carnap, 1963. In der Antwort auf Kaplan versucht Carnap seinen streng kognitivistischen Ansatz zu überwinden: aber bestimmt nicht in Richtung einer Anerkennung der Gegenwart von „Werturteilen" im Bereich der wissenschaftlichen Beweisführung sondern in Richtung einer weitaus anerkannten Möglichkeit, die „Bedeutungen der Werturteile" – die in der Alltagssprache wie in der philosophischen Sprache vorhanden sind – durch die Berufung auf die „kanonischen Formen einer künstlichen Sprache" – zu formalisieren. Auf jeden Fall wird, trotz der Anerkennung dieser Möglichkeit, die genaue Unterscheidung von Werturteilen und Behauptungen, die einen Erkenntniswert haben, bestätigt.

R. CARNAP, a.a.O.

Anderswo habe ich versucht, in Bezug auf die Molekularbiologie (und auf die Arbeit von Jacques Monod) die epistemologische Bedeutung der ethischen Entscheidungen zu bestimmen, vgl. M.GALZIGNA, a.a.O, SS. 15-100.

Ich verweise auf meinen Text Persona, struttura e storia. Una svolta epistemologica, der als Schlusskapitel in M. GALZIGNA (Hrsg.), La sfida dell’altro. Le scienze psichiche in una società multiculturale, Marsilio, Venezia, 1999, erscheint.

Vgl. W. V. QUINE, Wissenschaft und Empfindung, Die Immanuel Kant Lectures, Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2003. In Quines Epistemologie wird bekanntlich die Unterscheidung von begrifflich und empirisch, von analytisch und synthetisch, von Sprache und Tatsache (Objekt) aufgehoben.

Vgl. G. PASQUALOTTO, Estetica del vuoto. Arte e meditazione nelle culture d’Oriente, Marsilio, Venezia, 1992. Und auch G. PASQUALOTTO, Antidoti d’Oriente alla malinconia, in "BioLogica", 7, 2000. Für eine Begegnung von Psychotherapie und orientalischer Spiritualität ist D. BRAZIER, Terapia Zen, Newton & Compton, Milano 1997 eine nützliche Einleitung (in Bezug auf die Beziehung zwischen der epoché Husserls und den Lehren der geistigen Leere, vgl. SS. 39 — 40). Für eine Begegnung von Phänomenologie und Epistemologie — innerhalb einer Neuauslegung der buddhistischen Ethik der Unbegründetheit und des Mitleides — siehe den wichtigen Aufsatz von F. J. VARELA — E. THOMPSON — E. ROSCH, La via di mezzo della conoscenza.Le scienze cognitive alla prova dell’esperienza, Feltrinelli, Milano, 1992. Siehe auch die Aufsatzsammlung, die von einem Biochemiker, der auch praktizierender Buddhist ist, herausgegeben wurde: B. P. KIRTHISINGHE (Hrsg.), Buddhism and Science, Motilal Banarsidass, Delhi 1984. Siehe auch, unter den Klassikern der orientalischen Weisheit, die innerhalb unserer Perspektive lesbar sind, LIE ZI, Du vide parfait, Rivage Poche, Paris, 1999, und auch DÔGEN, La présence du monde, Gallimard — Le Promeneur, Paris, 1999.

Wichtig ist die Arbeit von M. EPSTEIN, Gedanken ohne Denker. Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie, Fischer, Frankfurt/M, 2000.

M. FOUCAULT, Der Gebrauch der Lüste, in Sexualität und Wahrheit 2, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1986, S.16

R. RORTY, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1981, SS.345/6 (Für die Behandlung der gesamten Problematik vgl. SS. 343-386)

R. RORTY a. a. O, S. 390. Rorty schreibt dieser Tätigkeit einen hohen ethischen, pädagogischen und bildenden Wert zu: „Das Unternehmen, (uns und andere) zu bilden, kann in der hermeneutischen Tätigkeit bestehen, Verbindungen zwischen unserer eigenen Kultur und irgendeiner exotischen Kultur oder Geschichtsepoche herzustellen, oder zwischen unserem eigenen Fach und einer anderen Disziplin, die mit einem inkommensurablen Vokabular inkommensurable Ziele zu verfolgen scheint".

G. CANGUILHEM, Lo statuto epistemologico della medicina, in „BioLogica", 1, 1988, SS. 195 — 209. Für das Zitat vgl. S. 208.

G. CANGUILHEM, a. a.O.

Vgl. F. BOLLORINO, Psichiatria on line, Apogeo, Milano, 1999

J. CHASSEGUET-SMIRGEL, Die Anatomie der menschlichen Perversion, Psychosozial-Verlag, Gießen, 2002. Die Empathie zwischen dem Psychonauten und dem Perversen ist nicht das Ergebnis einer bestimmten Lehre, die inbegriffen ist in dem Ausdruck, den wir verwenden, um an eine seiner möglichen Erklärungen zu erinnern (wir haben im Text von latenten perversen Seiten gesprochen, in Bezug auf die Freudianische Bearbeitung der Autorin); eine solche Empathie erscheint uns in erster Linie als — nicht theoretisch verarbeitetes — Erlebnis, das sich ausgehend vom Wortwechsel und vom emotionalen Einfluss der perversen Erzählung auf das Bewusstsein des Zuhörers, so wie sie in den Netzpraktiken zutage kommen.

Ich weise hier auf einen der dichtesten und bedeutendsten Texte Michel Foucaults hin, wo die Ausschließungsprozeduren und die Systeme der Kontrolle, die die Bildung eines Wahrheitsdiskurses regeln: vgl. M. FOUCAULT, Die Ordnung des Diskurses, Fischer, Frankfurt/M, 1998 (Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970).

M. FOUCAULT, a. a. O., S.25.

M. FOUCAULT, a. a. O., S. 32. Für Foucault bringt die Philosophie der Urerfahrung eine „Leugnung" der „spezifischen Realität des Diskurses" mit sich, die uns daran hindert, ihn in der Materialität seiner Zusammenstellung, in seiner Beziehung zu den Ereignissen und zu den Institutionen, in seinen Prozeduren der Ausschließung und der Kontrolle zu begreifen. Obwohl Foucault die Existenz einer Diskursivität postuliert, die im Raume eines „wilden Außen" hinsichtlich der wissenschaftlichen Wahrheit liegt, analysiert und bearbeitet er nicht das Problem der Orte und der spezifischen modi, innerhalb derer sich diese wilde Diskursivität entfaltet. Es wären, auf jeden Fall, Orte, die außerhalb der Vorrichtungen des Wissens und der Macht liegen, die die einzelnen Wahrheitsregimes in Betrieb setzen können. Gerade in dieser Perspektive bewegt sich unser Vorschlag einer anthropologisch-bildenden Herangehensweise an das Netz, als eine der Zugangsmöglichkeiten zu einer Beziehung zur Erfahrung, die ihrer Einbeziehung in die Konzeptualisierungsprozesse vorausgeht: bevor also, wie gesagt, die empirischen Tatsachen zu logischen Verhältnissen werden, d. h. bevor das Begriffliche und das Empirische deckungsgleich werden.

H. TELLENBACH, Melancholie, Springer, Berlin-Gottingen-Heidelberg, 1961; für eine Wiederaufnahme der Themen Tellenbachs vgl. G. GOZZETTI, Tristezza vitale. Psicopatologia e fenomenologia della melancolia, Marsilio, Venezia, 1996.

H. TELLENBACH, H., a. a. O.

J. STAROBINSKI, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, Acta Psychosomatica, Documenta Geigy, Genf, 1960.

Wir finden diesen Ausdruck in G. DELEUZE — F. GUATTARI, Was ist Philosophie?, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1996, SS.42-69. Die Definitionen ("Begriff", "Immanenzebene" und "Begriffsperson"), die wir in diesem Aufsatz finden, könnten mit angemessenen Veränderungen ad hoc auf die Humanwissenschaften und, in einem bestimmten Maße, auch auf die Psychiatrie angewandt werden. Der Tod der beiden Autoren hat die Möglichkeit einer solchen Erweiterung – oder im Allgemeinen einer radikalen philosophischen Umgestaltung der Disziplinen – offen gelassen.

G. DELEUZE — F. GUATTARI, a. a. O., S. 49.

Vgl. M. GALZIGNA, La malattia morale .Alle origini della psichiatria moderna, Marsilio, Venezia, 1992, SS. 181 — 193.

G. DELEUZE — F. GUATTARI, a. a. O., S. 48.

M. BORCH-JACOBSON, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Stingelin, München, Wilhelm Fink Verlag, 1997.

Für eine Bewertung der Gegenwirkungen vgl. J. A. LIEBERMAN, Maximizing clozapine therapy, in "Journal of Clinical Psychiatry", 59, Beilage 3, 1998, SS. 38-43; in einigen Autoren überwiegt eine sehr vorsichtige Haltung gegenüber der Möglichkeit, die Gegenwirkungen der neuen Neuroleptika auf zuverlässige Weise zu bewerten, und zwar auf Grund ihrer neuen Markteinführung und der daraus folgenden Geringfügigkeit der vorhandenen Kasuistik. Vgl. dazu D.G. DANIEL (et alii), Side effects of risperidone and clozapine, in "American Journal of Psychiatry", 153, 1996, SS. 417-419.

Vgl. den Beitrag von R. Gates in R. D. BURKE, Wenn die Musik verstummt, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1997. Gates behauptet, dass für die Schizophrenie viele Behandlungen vorgeschlagen worden sind. Aber zur Zeit wäre die pharmakologische Behandlung – verbunden mit einer aufmerksamen Sozialhilfe – die klarste Entscheidung. Die reduktionistische Haltung dieser Behauptung, die sich innerhalb eines „biologischen" Paradigmas – als geschlossene und selbständige epistemologische Struktur — bewegt, benötigt keinen Kommentar. 

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